Viel Geduld und ein Abakus

Lernbehinderte Menschen können es mit spezieller Förderung weit bringen. So wie Marian Reineke, der an einer anthroposophischen Schule so viel lernte, dass er heute selber als Erzieher arbeiten kann

VON LUTZ DEBUS

Marian Reineke sitzt an seinem Klavier. Spielen kann er es nicht. Aber er weiß, dass es so alt ist, dass seine Stimmung nicht zu heutigen Instrumenten passt. Im vorletzten Jahrhundert lag der Kammerton noch tiefer. Das hat Marian Reineke in der Schule gelernt. In der Christian-Morgenstern-Schule in Wuppertal, einer anthroposophischen Sonderschule für Lernbehinderte und Erziehungshilfe. Dort, vor über zehn Jahren, hielt er auch ein Referat über Claude Monet und seine monumentalen Gemälde. Als der Maler kaum noch etwas sehen konnte, malte er diese Formate. „Wenn er nicht blind geworden wäre, wäre er vielleicht nicht so berühmt geworden“, fasst Reinike seinen damaligen Vortrag zusammen. Inzwischen ist der 29-Jährige Erzieher in einem Kinderheim. Er bewohnt ein kleines Häuschen auf einem Berg über Wuppertal.

Es war nicht leicht, dies alles zu erreichen. Schon im Kindergarten fiel Marian Reinike auf. Beim Ausmalen kritzelte er über die vorgegebenen Formen. Er konnte nicht auf einem Bein stehen und auch nicht auf einer Linie balancieren. Um trotzdem von den Kindergärtnerinnen gelobt zu werden, war er immer besonders lieb. Die Grundschule war ihm viel zu laut. Er verstand nichts. Der Lehrer riet den Eltern zum Besuch der Waldorfschule. Der kleine Marian fühlte sich die ersten Schuljahre dort sehr wohl. Im Klassenraum war es so still, dass man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Doch als in der vierten Klasse Diktate in Englisch und Französisch geschrieben wurden, kam der Junge nicht mit. Er wurde zunehmend gehänselt. Bei Schulausflügen sollten sich die Kinder an die Hand nehmen. Marians Nachbarin versteckte ihre Hand unter ihrem Ärmel. So einen dummen Jungen wollte sie nicht anfassen.

Als 12-jähriger wechselte Marian zur Christian-Morgenstern-Schule. „Ich haue richtig rein, dann bin ich hier ganz schnell wieder weg“, habe er sich damals gesagt. Doch auf einmal genoss er es, nicht mehr ständig pauken zu müssen. Er war plötzlich der Beste, nicht mehr der Schlechteste, wurde sogar Klassensprecher. Ihn begeisterten Kunst, Werken, Geschichte, Geographie, Geologie. In Biologie erklärte man ihm Gentechnik. Schreiben, Lesen und Rechnen waren nicht so wichtig wie auf anderen Schulen, auch nicht so wichtig wie auf anderen Sonderschulen. Besonders liebte er das Theater. In Schillers „Wilhelm Tell“ spielte er den Landvogt Geßler. Endlich durfte der, der sich bisher immer vorgenommen hatte, lieb zu sein, den Finsterling spielen. Minutenlangen Applaus erhielt er für seine schauspielerische Leistung. Lesen und Schreiben aber fiel dem 14-Jährigen noch immer schwer. Dabei wollte er doch einen guten Hauptschulabschluss machen, vielleicht sogar die Mittlere Reife. Er überredete eine Lehrerin, ihm Förderunterricht zu geben, jeden Morgen, 45 Minuten vor Unterrichtsbeginn. Und er schaffte den Realschulabschluss mit einem passablen Notendurchschnitt.

Zunächst bewarb er sich an der städtischen Fachschule für Erzieher. Dort, so erklärte man ihm, könne man auf seine Behinderung keine Rücksicht nehmen. Die Evangelische Fachschule aber gewährte ihm Sonderrechte. Statt, wie alle seine Mitschüler, sein Referat abzulesen, hielt er, frei sprechend, einen Vortrag. Alle waren begeistert. Doch der Lehrer wollte auch eine schriftliche Ausarbeitung. Mühsam tippte Marian Reineke das improvisiert Gesagte über Tage und Nächte in den Computer.

Die Mühen und Plagen haben sich gelohnt: Heute sehen seine Kollegen im Heim in Marian Reineke einen qualifizierten Pädagogen. Und bei den Kindern ist er beliebt. Da, wo manch anderem Erwachsenen die Geduld fehlt, beginnt Reineke mit einem Lächeln zu erklären. Ein 11-jähriger Junge schaffte es nicht, vier und drei zu addieren. Marian Reineke besorgte einen Abakus. So konnte der Junge die Aufgabe lösen. Andere Mitarbeiter waren zuvor an dem Jungen verzweifelt. Der zwei Meter lange ehemalige Sonderschüler schaut auf sein Klavier, das nicht in die heutige Zeit passt und sagt: „Wenn ich selbst nicht behindert wäre, könnte ich vielleicht nicht so mit Behinderten arbeiten.“