Europa: Reif für die Insel?

Vom Überleben in der Krise

ULRIKE GUÉROT

Alle Welt schaut auf die deutschen Wahlen, wenn es um Europa geht. Aber vielleicht werden die Weichen ja ganz woanders gestellt. In Großbritannien?

„Heavy fog in channel – continent cut off“, Nebel im Ärmelkanal – Kontinent unsichtbar, titelte die Times schon in den 50ern, um das Verhältnis zwischen Briten und Kontinent zu klären. In der EU waren sie immer halb draußen (Schengen, Euro), halbschwanger sozusagen. Indes die Beeinflussung von EU-Politik – maßgeblich durch Konterkarieren kontinentaler Integrationsabsichten – war stets Dreh- und Angelpunkt britischer Politik.

Der Zusammenhalt der konservativen Partei ist wohl der riskanten Rede von Premier David Cameron geschuldet, der im Januar 2013 ein Referendum über den Verbleib in der EU für 2017 ankündigte. Dies wirft zwei Fragen auf: einmal, ob die Insel tatsächlich reif für ein klares Ja zu Europa ist. Dann, was die Briten anstellen werden, um ein Nein zu verhindern. Denn zumindest die britischen Eliten aus Politik und Wirtschaft sind sich einig, dass Letzteres ein Desaster für das Land wäre. Leider sieht das die britische Bevölkerung (noch) nicht so. Im Gegenteil: die Anti-Europa-Partei Ukip könnte laut Umfragen drittstärkste Kraft im Land werden. Großbritannien ist damit nicht nur ein country in denial, ein Land also, in dem strategische Interessen und mögliche Entscheidungen auseinanderzulaufen drohen. Es ist auch ein Land, in dem – von uns recht unbemerkt – doch einiges passiert, um Großbritannien wirtschaftlich fit zu machen. Von Deutschland wird dabei abgekupfert, auch wenn die liberale Presse in der Eurokrise immer ganz vorne beim Deutschlandbashing mitmischte.

Finanzmister George Osborne hat das Land einer drastischen Rosskur unterzogen: Die Reformen bei Renten und Sozialleistungen kommen ganz in die Nähe von Hartz IV, auch in puncto Schmerzhaftigkeit. Das war auch nötig: Das britische Pfund hat massiv abgewertet, das Defizit ist fast doppelt so hoch wie das Italiens. In BIP-Zahlen ausgedrückt, steht Großbritannien schlechter da als viele Südeuropäer. Schon jetzt, sagen Finanzinsider, geht das Investitions- und Anlagevolumen in der City zurück, die ersten Jobs verschwinden. Was erst, wenn das Referendum schiefgeht?

Dazu kommt noch die Debatte über Sozialleistungen für EU-Bürger (genauer: deren Abbau), womit jenseits von social Europe die Frage nach der Freizügigkeit beim Personenverkehr, einem Meilenstein europäischer Errungenschaften, berührt wäre. Nicht nur Inselbewohner, auch Anhänger von CSU oder AfD dürften solche Parolen gerne hören. Über den Ärmelkanal schwappen derzeit allzu viele konservative, antisoziale, Anti-Migrations-, Anti-Freizügigkeits- und Anti-Bankenregulierungs-Ideen.

Geboren 1964 in Grevenbroich, ist Politikwissenschaftlerin. Sie leitet seit seiner Gründung 2007 das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations. Guérot lebte fast zehn Jahre in Frankreich und trägt das französische Verdienstkreuz.

■ An dieser Stelle wechseln sich jede Woche unter anderem ab: Gesine Schwan, Rudi Hickel, Ulrike Herrmann, Niko Paech, Sabine Reiner

Damit stellt sich nicht nur die Frage nach dem Einfluss der Briten, sondern auch die Frage nach der Erpressbarkeit Europas. Genauer: Was wird die EU von der sogenannten Londoner Reformagenda alles schlucken müssen, nur damit die Insel EU-Mitglied bleibt? Wedelt der Schwanz hier mit dem Hund, vielleicht weil sich Deutschland partout nicht nur auf Frankeich verlassen will? Das britische Referendum – und sein befürchteter negativer Ausgang – könnte zum geschickten Hebel werden. Vordergründig unschuldig und ganz auf die europäische Wettbewerbsfähigkeit abgestellt – Stichwort digital agenda – könnten die Vorschläge sogar der Eurozone und ihrem vertieften Integrationsbedarf den Garaus machen. Schon hört man den britischen Sound hierzulande, dass „auch mal Kompetenzen von der EU zurückgeführt werden müssen“. Aber Freizügigkeit ist keine ‚Kompetenz‘, sondern ein Prinzip.

Nicht unbedingt dabei sein, aber den europäischen Kontinent in der Hand haben: Heavy Fog in the channel, die alte britische Devise ist die neue. Diesmal geht sie hoffentlich schief!