berliner szenen Berliner Wald

Klischees zum Angucken

Ich habe schlechte Laune. Am U-Bahnhof Kottbusser Tor liegt Kotze im Durchgang. Wieso müssen sich Klischees eigentlich immer selbst beweisen? Der Festsaal Kreuzberg ist warm und gediegen: Die Tische sind zu Tafeln zusammengeschoben und mit cremefarbenen Seidentischdecken veredelt. Auf der Bühne steht heute der Berliner Wald, die erste Lesebühne Kreuzbergs.

Nacheinander schreiten sie über die Seitentreppe aus dem Autorenolymp herab: Bas Böttcher rhythmisiert Alliterationen, Yaneq diskutiert Drogenmissbrauch, Wolf Hogekamp nimmt der „feschen Lola“ ihren Stolz und macht sie vollends zur Hure. Die gebürtige Texanerin Flow widmet ihren Text George W. Bush. Neben mir sitzt ein Mensch namens Karsten und zuckt mit den Schultern: „Mein Englisch ist zu schlecht.“ Dann tritt Ben Kaan auf: schmale Schultern, Unterarmstulpen, ein modisch gestutzter Schnurrbart unter der feschen Mütze. Die Gitarre sieht sehr groß aus in seinen Armen. Er hat gerade gekifft, sagt er, und seine Mundharmonika auf der Empore vergessen.

„Ich kann das nicht leiden, wenn die Leute zugedröhnt auf die Bühne kommen. Das ist beleidigend fürs Publikum“, schimpfe ich. Karsten nickt. Als Ben Kaan singt, werde ich still. Summende Melancholie erfüllt den Raum. Wunderschön. Schön ist auch die Frau, die beim zweiten Song divengleich die Treppe herabschwebt. Das tief ausgeschnittene Top glitzert im Scheinwerferlicht, der Tüllrock bauscht sich. Sie setzt sich neben den Sänger. Und schaut ins Publikum. „Was macht die Frau auf der Bühne?“, ruft einer, als das letzte Lied verklungen ist. „Sie hört zu“, ist die Antwort. „Das können Frauen eben doch am besten,“ sagt Karsten, „schön zuhören.“ LEA STREISAND