Kambodschas Seele aus Stein

Angkor hat Jahrhunderte unter wucherndem Dschungel überlebt, Kriege und Plünderungen überstanden und ist heute eines der eindrucksvollsten Weltkulturgüter. Doch durch den ungezügelten Massentourismus laufen die uralten Tempel der Khmer in Angkor Gefahr, sich in Staub aufzulösen

„Wie können wir Nein sagen zum Massentourismus, der einem traumatisierten, armen Volk rasches Geld bringt?“

von HILJA MÜLLER

Die Szenerie ist gespenstisch: Auto um Auto biegt auf der finsteren Dschungelstraße um die Kurve und hält auf einem staubigen Parkplatz. Flüsternde Gestalten steigen aus und knipsen Taschenlampen an. Zielstrebig eilen sie einen holprigen Pflasterweg entlang. Was anmutet wie ein konspiratives Treffen, ist der allmorgendliche Run auf die besten Plätze zum Fotoshooting: Angkor Wat bei Sonnenaufgang, das ist ein Muss für viele Kambodscha-Touristen.

Wohl dem, der einen Führer mit Spürsinn für ein ruhiges Plätzchen hat. Son Lay ist solch ein Spezialist. Wie in den vergangenen Tagen sind wir zur rechten Zeit am rechten Ort. Lediglich zwei weidende Pferde leisten uns Gesellschaft, während die Sterne langsam verblassen. Bald zeichnen sich scharf die fünf Türme von Angkor Wat gegen den pinkfarbenen Morgenhimmel ab. Ein Bild, dessen Zauber Fotos nur unzulänglich einfangen.

Laute Stimmen reißen uns aus der stillen Bewunderung: Immer mehr Busse spucken Reisetrupps aus, die spät dran sind. Gehetzte Gestalten bauen Stative auf, Reiseleiter verschaffen sich lautstark Gehör. Die ersten Souvenirverkäufer sind im Einsatz, das beste Geschäft machen die mobilen Kaffeeverkäufer. Mit der Magie des frühen Morgens ist es vorbei. „Lasst uns gehen, jetzt wird es zu voll“, sagt Son. Der 31-jährige Kambodschaner arbeitet seit zehn Jahren als Führer in Angkor, wo die Könige des gewaltigen Khmer-Reiches zwischen dem 9. und 15. Jahrhundert hölzerne Paläste und mehr als 100 steinerne Tempel bauen ließen. Er ist einer der wenigen Einheimischen, der den stetig wachsenden Massentourismus mit Sorge betrachtet. Seitdem das 400 Quadratkilometer große Areal nach dem Ende des brutalen Regimes der Roten Khmer von 25.000 Landminen geräumt und 1995 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde, verkündet die lokale Aufsichtsbehörde „Apsara“ (Authority for the Protection and Management of Angkor) jährlich neue Rekordzahlen. Besuchten 1998 nur etwa 40.000 internationale Touristen die heiligen Stätten der Khmer, waren es 2000 bereits 171.000. Die Zahlen für 2005 übersteigen die Marke von 800.000.

Tep Vorn ist glücklich über diese Entwicklung. Sie lebt mit sieben ihrer neun Kinder in einem Stelzenhaus in Srah Song, einer alten Ansiedlung innerhalb der Mauern Angkors. Son vermittelt ihr Besucher, die traditionelles Essen mögen und nebenbei neugierige Fragen stellen wollen. Madame Vorn ist aufgeregt, ob ihre köstliche Fischsuppe und das zart-scharfe Rindfleisch den Besuchern aus dem Westen auch schmecken. Die 54-Jährige erinnert sich gut an die Gräueltaten der Roten Khmer in den 1970er-Jahren und an den Hunger, den sie gelitten hat. Sie ist glücklich über das bescheidene Auskommen, das die Fremden ihr bringen. „Der Tourismus hat unser Leben sehr verändert. Ich kann allen meinen Kindern jetzt eine Ausbildung finanzieren, das ist unglaublich.“

So wie Tep Vorn denken viele der 100.000 Bewohner von Siem Reap, jener Stadt, die direkt vor den Toren Angkors boomt wie keine andere im Königreich. Die Nationalstraße 6 vom Flughafen zum Ortszentrum ist eine einzige Hotelmeile, und überall sprießen neue Herbergen, Restaurants, Bars und Souvenirgeschäfte aus dem Boden. Die Polizeistation und die Feuerwache mussten an den Stadtrand weichen, ihre zentral gelegenen Grundstücke wurden zu Geld gemacht.

Tausende Arbeitsplätze entstanden in den letzten Jahren in Siem Reap, die meisten freilich im Niedriglohnsektor. „Angkor bringt Riesenprofite, doch für uns Kambodschaner bleiben nur die Krümel übrig“, ärgert sich Son. In der Tat dominieren internationale Hotelketten und Investoren aus asiatischen Nachbarländern wie Thailand oder Korea. Bereichern können sich aber auch einheimische korrupte Strippenzieher. Wie anders ist zu erklären, dass die Konzessionsrechte für die 20 bis 60 Dollar teuren Eintrittskarten für Angkor im April 1999 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von der Regierung an die von einem einheimischen Wirtschaftsmagnaten geleitete Sokha Hotel Co. verscherbelt wurde?

Die Konzession kostete den Geschäftsmann lediglich 1 Million US-Dollar im Jahr, die Einnahmen aus dem Ticketverkauf brachten ihm ein Vielfaches. Nur etwa fünf Prozent der Eintrittsgelder wurde für den Erhalt der Tempelanlagen ausgegeben. Damit war die heiligste Stätte der Khmer faktisch privatisiert, und etliche Hintermänner des Deals dürften erheblich reicher geworden sein. Aufgrund heftiger Proteste wurde im August 2000 ein neuer Vertrag ausgehandelt. Seither fließen immerhin knapp 60 Prozent aus dem Ticketverkauf in die Restaurierung Angkors.

Gute Geschäfte werden auch mit gefälschten Ausweisen für Touristenführer gemacht. „In Angkor arbeiten 2.000 Führer, aber viele haben ihre Lizenz gekauft“, weiß Son. „Sie haben keine Ahnung, erzählen den Touristen nur auswendig gelernte Zahlen.“ Wie um seine Worte zu bestätigen, poltert eine asiatische Reisegruppe um die Ecke, der Führer leiert in Megafonlautstärke seinen Text herunter. In kleinen Grüppchen posieren kichernde Besucher zum Foto. „Ta Prohm ist besonders beliebt, seit der Actionfilm ‚Tomb Raider‘ hier gedreht wurde“, sagt Son genervt. Die verwunschene Schönheit des Dschungeltempels aus dem 12. Jahrhundert, dessen Mauern nur durch die krakengleichen Wurzeln mächtiger Würgefeigen zusammengehalten werden, ist zur Fotokulisse für Eintagestouristen verkommen. Nach fünf Minuten ist der Spuk vorbei, der Reisetrupp trabt zum Bus. „Und was haben die jetzt begriffen von diesem Tempel, von unserer Geschichte?“, fragt Son.

In Angkor Wat und Angkor Thom, den beiden Hauptattraktionen, sieht es noch schlimmer aus. Horden aus aller Herren Länder drängen vorbei an den mythischen Tempeltänzerinnen (Apsaras) und den detailgetreuen Basreliefs. Sie inspizieren kurz die Elefantenterrasse und die Terrasse des Leprakönigs. Es gibt kein Innehalten, keine Ruhe zum Betrachten. Der Zeitplan drängt, die meisten Besucher kommen nur für einen Tag. Geraucht und gegessen wird im Gänsemarsch, zurück bleiben Kippen und Plastiktüten. Kein Führer mahnt die Besucher, kein Tempelwärter verschafft Angkor den angemessenen Respekt.

Angkor ist eine Geldmaschine, das Weltkulturerbe erlebt derzeit seinen Ausverkauf. Obgleich sich ein knappes Dutzend Länder mit aufwändigen Restaurationsprojekten engagieren, sieht Son die Zukunft der alten Khmer-Tempel alles andere als rosig. „Diese heiligen Stätten wurden von unseren Vorfahren nicht dafür gebaut, dass so viele Menschen sie besichtigen, die Treppen hinaufsteigen und die Reliefs befingern. Wir müssen Schutzmaßnahmen ergreifen, bevor die Schäden zu groß werden.“ In Angkor Wat und Angkor Thom sind schüchterne Ansätze erkennbar. Hier soll ein Seil Besucher davon abhalten, die empfindlichen Sandsteinreliefs zu berühren. Dort bedecken Holzbohlen die bereits arg abgetretenen Steingänge.

Angkor hat Jahrhunderte unter wucherndem Dschungel überlebt, Kriege überstanden und ist trotz massiver Plünderungen noch eines der eindrucksvollsten Weltkulturgüter. Der ungezügelte Massentourismus könnte für Angkor indes die finale Gefahr sein. Kerya Chau Sun, Chef der „Apsara“-Tourismusabteilung, ringt um eine Erklärung: „Wie können wir Nein sagen zum Massentourismus, der einem vom Bürgerkrieg traumatisierten Volk, das zu den ärmsten der Welt gehört, rasches Geld bringt? Wie können die Kambodschaner dieser Versuchung widerstehen?“

Ein Basrelief in Angkor Wat stellt das „Quirlen des Milchmeeres“ dar: Götter und Dämonen zerren an der gigantischen Schlange Vasuki, um so die unsterblich machende Flüssigkeit Amrita zu gewinnen. Vielleicht ist Amrita das Einzige, was Angkor vor der Vermarktung à la Disneyland retten kann.