Aufgelöste Kreidefelsen

Erbarme, die Bayern kommen: Hessen wird um die Früchte seiner Arbeit gebracht

Deutscher werden – das erfordert quasi die Kraft einer Neugeburt

Im hessischen Innenministerium ist die Stimmung dieser Tage schlecht. „Wir haben uns so viel Mühe gegeben“, sagt Mareike Kluck und rückt einige Papierstapel auf ihrem Schreibtisch zurecht, „und jetzt reden alle von einer bundeseinheitlichen Regelung. Unsere Arbeit wird nicht anerkannt, sondern zerpflückt oder verwässert.“ Die Arbeit, von der die engagierte Angestellte spricht, betraf den vor kurzem vorgestellten Einbürgerungstest mit seinen 100 Fragen an potenzielle Deutsche, hausintern „Hessischer Hürdenlauf“ genannt.

„Mehrere Abende“, so Mareike Kluck, habe sich die „Task Force Integration“, eine Gruppe enger Mitarbeiter des hessischen Innenministers Volker Bouffier, im Wiesbadener Lokal „Schobbepetzer“ mit dem Fragenkatalog beschäftigt. „Nach Feierabend, in unserer Freizeit“, hebt sie hervor. Sie selbst habe die Frage nach Caspar David Friedrichs Kreidefelsen sowie die nach der Kasseler „Documenta“ entwickelt. Diese Aufgabe sei ihr zugefallen, „weil ich im Kollegenkreis für mein großes Kunstverständnis bekannt bin“. An Punkt 84 und 85 – den Nummern der Fragen – könne man aber auch geradezu beispielhaft erkennen, „dass niemand in der Runde es sich leicht gemacht hat. Selbstverständlich wollte ich einen Aspekt unterbringen, der Hessen betrifft – deshalb die Frage nach der Documenta –, aber mir war auch klar, dass unsere Neubürger sich um einen Platz im vereinigten Deutschland bewerben.

Kunst und Kunstgeschichte der neuen Bundesländer müssen ihren Platz haben.“ Darüber hinaus verhindere ihre Entscheidung, den Kreidefelsen auszuwählen, „in subtiler Form“ jeglichen Personenkult. „Denken Sie an die Holländer! Da müssen Sie Willem van Oranje auf einem Bild erkennen.“

Ob Kreidefelsen oder Automobilbau – was Deutschland ausmacht, ist laut Mareike Kluck von der Task Force hinlänglich diskutiert worden, „manchmal zwei Stunden“, und nicht immer sei man sich einig gewesen. Dieser „große Druck“ sei vielleicht auch schuld daran, „dass ein Stück weit vergessen wurde, Frauennamen unterzubringen“. Vielmehr sei es um „das Projekt als Ganzes“ gegangen. So habe ein Teil der Runde energisch dafür plädiert, die Fragen „klar und deutlich und ohne Hilfestellung“ zu formulieren. Sicherlich müsse man deutlich machen, dass „Deutscher werden quasi die Kraft einer Neugeburt fordert“, findet Mareike Kluck. „Man kann doch nicht einfach glauben, jetzt bin ich lange genug hier und gehe auch mal wählen.“

Trotzdem habe sie, wie einige andere, „einleitende Sätze“ bei den Testfragen favorisiert. „In einer Prüfung ist man doch immer etwas nervös. Und dann verwechselt ein Ausländer vielleicht etwas, und schon denkt er, mit der Landschaft auf der Insel Rügen sei Prora gemeint – da finde ich einen Hinweis auf den Maler nur fair.“ Nach „einigem Hin und Her“ habe man sich dann auf eine „Mischform“ geeinigt. Letztlich sei die Debatte aber weniger erregt verlaufen als jene um die Frage, „ob der Ausländer drei oder sieben Gründe angeben sollte, warum er Deutscher werden will“. Mareike Kluck lächelt zum ersten Mal: „Da hatten beide Seiten wirklich gute Argumente.“

Ihre fröhliche Miene hält jedoch nur einige Sekunden. Die angekündigte bundeseinheitliche Regelung fällt ihr wieder ein. „Stoiber“, zischt sie. „Der will jetzt auch eine mündliche Verhandlung, plus Test. Grundüberzeugungen! Ha! Die Bayern haken da jetzt ein und machen alles kaputt.“ Sie dreht ihren Computerbildschirm in Richtung Besucherstuhl und senkt die Stimme. „Hier läuft schon alles.“ Eine Website ist auf dem Bildschirm zu sehen, unterlegt mit einer Alpenlandschaft. „Heimsieg in Garmisch-Partenkirchen!“, spielt die Überschrift auf die kommende Innenministerkonferenz im Mai an.

Hier, unter stmi.bayern.de/hessen_toppen, sammelt das Bundesland Bayern seinerseits Fragen an Neubürger. „Da wird nichts diskutiert, da darf selbstverständlich jeder mitmachen und die Vorschläge anderer bewerten“, beschwert sich Mareike Kluck. „Am Ende kommen die dann mit ihren Fragen und verlangen, dass davon mindestens 50 Prozent eingesetzt werden. Und sie sind schlau – sie haben auch an die anderen Bundesländer gedacht.“ Mit zittrigen Fingern bewegt sie die Maus und klickt die Rubrik „Top Ten“ an. „Da“, haucht sie erschöpft. Blau auf weiß ist zu lesen:

1. Entwerfen Sie die Anfänge eines Schnaderhüpferls!

2. Welche berühmten Deutschen entdeckten das Rumpelstilzchen? Nennen Sie mindestens einen!

3. Was ist ein Hammelsprung, harrharr?

4. Wo, wie und seit wann beginnt und endet eine geschlossene Ortschaft? Welches Zeichen weist darauf hin, und welcher Paragraf regelt diese wichtige Angelegenheit?

5. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es viele Traditionen. Erläutern Sie den Begriff „Kehrwoche“. Würden Sie die Kehrwoche ablehnen? Unter welchen Umständen?

6. Welcher Deutsche setzt sich vorbildlich und international gegen Verhütungsmittel und Abtreibung ein?

7. Warum ist es am Rhein so schön? Welche Vorteile ergeben sich daraus für Bürgerinnen und Bürger?

8. Nennen Sie drei deutsche Hunderassen!

9. Fußballweltmeisterschaft 1966: Drin oder Linie?

10. In manchen Religionen gibt es Nahrungstabus. Würden Sie ein Rumpelstilzchen essen? Warum nicht?

Mareike Kluck schluchzt. Tränenblind weist sie den Weg zur Tür. „Ich habe es im Gefühl, dass meine Fragen als erste gestrichen werden. Bitte gehen Sie jetzt.“ CAROLA RÖNNEBURG