Die Rückkehr der Helden

DIGITALE WELT Nie war es leichter, Unrecht offenzulegen. Doch wir verlassen uns zu sehr darauf, dass das Einzelgänger übernehmen

Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann

VON JOHANNES THUMFART

Liest man Chelsea Mannings Statement anlässlich der Urteilsverkündung letzte Woche, entwickelt man unweigerlich das Gefühl, in einer anderen Zeit gelandet zu sein. Von der Verantwortung des Einzelnen für die Gesellschaft ist da die Rede, von universellen Werten, von Opferbereitschaft. Ähnlich klang Edward Snowdens erstes Interview mit dem Guardian, in dem er von seiner persönlichen Bereitschaft sprach, jedes Risiko in Kauf zu nehmen, um die offene Gesellschaft gegen ihre institutionellen Feinde zu verteidigen.

Snowden und Manning sind – in einem vollkommen neutralen Sinn – Helden. Politikwissenschaftler Herfried Münkler definierte den Helden als einen „Kämpfertyp, der durch gesteigerte Opferbereitschaft ein erhöhtes Maß gesellschaftlicher Ehrerbietung zu erwerben trachtet“. Diese Diagnose trifft auf Manning und Snowden zu.

Interessanterweise stammt Münklers Definition des Helden aus einem sieben Jahre alten Text, der gerade das Verschwinden des Heroischen in den westlichen Gesellschaften konstatiert. Münklers These vom „postheroischen Zeitalter“ ist bis heute extrem einflussreich. Eine entpolitisierte Gesellschaft voll ich-verseuchter iPhone-Besitzer, die im Modus des permanenten Selbstporträts leben – so scheint vielen die Gegenwart. Nie war das bekannte Paradoxon offensichtlicher: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Da sie Opferbereitschaft nicht gerade begünstigen, haben liberale Werte nur eine kurze Halbwertszeit.

Früher musste nachts per Hand kopiert werden

Umso überraschender ist die neuerliche Renaissance des Heroischen im Herzen des Postheroischen, inmitten der digitalen Gesellschaft. Ein Grund für diese unerwartete Wendung ist, dass es noch nie so einfach war, ein Held zu sein. Computer haben den Einzelnen zwar womöglich tatsächlich mehr auf sich selbst fokussiert, ihm aber auch deutlich mehr Handlungsmacht gegeben. Daniel Ellsberg, der 1971 geheime Pentagon-Papiere über den Vietnamkrieg an die Öffentlichkeit brachte, musste noch alles nächtelang per Hand kopieren: Ein Prozess, der für den Whistleblower äußerst riskant war und mehrere Monate in Anspruch nahm. Manning reichten ein paar CDs, die in wenigen Stunden kopiert waren.

Vor der unter anderem für die Ereignisse um 1989 politisch ungemein wichtigen Erfindung des Fotokopierers hatten es Helden noch schwerer. Giordano Bruno, Toussaint Louverture, John Brown, Lenin, Hans Beimler, Gandhi – all diese Fälle bedurften jahrzehntelanger Entwicklungen bis hin zur geschichtlichen Bedeutsamkeit, wesentlich entbehrungsreicher als die Biografien Mannings und Snowdens und wesentlich komplexer. Fast jeder dieser Helden der Vergangenheit wurde durch realpolitisches Taktieren moralisch fragwürdig. Machiavelli nannte dies das Problem der „schmutzigen Hände“ politisch Aktiver.

Der Held des Digitalzeitalters kann dagegen die Welt tatsächlich durch eine saubere, theoretisch innerhalb weniger Stunden realisierbare Entscheidung verändern – seinen Entschluss etwa, dieses oder jenes Dokument zu publizieren. Der digitale Heroismus folgt weniger der Logik des Heldenepos als der binären Logik des Computerspiels: Nullen und Einsen, alles oder nichts, Sieg und Niederlage, Freund und Feind. Die Zugespitztheit der Maschinensprache führt fast automatisch zur Produktion von Helden.

Nur bedingt funktioniert daher die psychologisierende biografische Dekonstruktion Julien Assanges, Mannings und Snowdens, ansonsten ein probates Mittel postheroischer Schlaumeier. Assange, Manning und Snowden sind nicht Vorsitzende einer physischen politischen Organisation und prägen diese durch ihren unbestreitbaren Narzissmus. Die Früchte ihres Heldenmuts befinden sich entkörperlicht und enthumanisiert als einsehbare Information im Cyberspace.

Einstweilen ist davon auszugehen, dass das Zeitalter der digitalen Helden nur ein Übergangsphänomen ist. Die NSA trägt dem Risikofaktor menschliches Gewissen dadurch Rechnung, dass sie neunzig Prozent ihrer Systemadministratoren – wie Snowden einer war – feuern wird. Behoben wurde längst auch die viel zu leichte Zugänglichkeit diplomatischer Informationen durch Angehörige der U.S. Army – Ausgangspunkt der Leaks von Manning.

Hierin ist der digitale Held kein historischer Ausnahmefall. Politischer Heroismus war schon immer angewiesen auf vorübergehende Lücken im Kontrollapparat. Die Grundlage des Heroismus der Französischen und Amerikanischen Revolution sowie der nachfolgenden Ereignisse war beispielsweise die Verwendung ähnlicher Feuerwaffen auf beiden Seiten des Konflikts zwischen Volk und Staat. Sie wurde erst mit der im späten 18. Jahrhundert einsetzenden industriellen Produktion von Waffen möglich.

Auf den Straßen herrscht keine Waffengleichheit

Das postheroische Zeitalter ist auch das Zeitalter, in dem diese Waffengleichheit nicht mehr gegeben ist. Wo Straßen der Metropolen breiter werden – Boulevards und Alleen sind in erster Linie Aufmarschgebiete von Kanonen, Panzern und Wasserwerfern –, kann eine Revolution kaum noch erfolgreich sein. Anders war das zeitweise nur im radikaldemokratischen Cyberspace, dessen politische Unabhängigkeit in Anlehnung an diejenige der Vereinigten Staaten schon 1996 erklärt wurde.

Bei der Renaissance des Helden handelt es sich nicht unbedingt um ein positives Phänomen. Noch immer gilt die von Brecht festgestellte Tatsache, dass das Land unglücklich ist, das überhaupt welche braucht. Eine Bedingung für die Rückkehr des einsamen Wolfs ist, dass die im militärisch-digitalen Komplex institutionalisierte Gewissenlosigkeit so weitreichend ist, dass kein anderer Widerstand als der vollkommen isolierter Renegaten denkbar ist.

Auch ohne Religion, die viel zu häufig fälschlicherweise als Bedingung politischer Opferbereitschaft angenommen wird, vermochten Assange, Snowden und Manning den stummen Ruf des Gewissens zu vernehmen, gegenüber dem die Gesamtgesellschaft taub ist.

Ein Vorteil des postheroischen Zeitalters war, dass es nicht auf derlei glückliche Ausnahmen angewiesen war, sondern durch öde institutionalisierte Kontrollmechanismen funktionierte. Das überproportionale Interesse an den neuen Helden könnte sogar dazu führen, dass unglamouröse politische Organisation noch weiter an Attraktivität verliert.

Gerade weil die Renaissance des Helden das Politische dem isolierten Einzelnen und seinem Gewissen überantwortet, handelt es sich um ein Symptom des Niedergangs der Demokratie.