„Hitler glaubte das Neue zu repräsentieren“

Die Vereinigten Staaten von Amerika glauben an den Fortschritt – an den Fortschritt in kleinen Schritten. Europa setzte dagegen immer wieder auf große Umwälzungen. Auch das ist ein Erbe Napoleons, sagt die Philosophin Agnes Heller

taz: Frau Heller, kurz nach den Anschlägen vom 11. September in den USA interpretierten Sie den Terror als ein wiederkehrendes Ereignis aus den Ursprungsereignissen der Moderne. Zu diesen Ursprungsgeschichten gehört, so sagten Sie, eben nicht nur die Verfassungsgebung, die Revolution, die Freiheit, sondern auch die terreur. Napoleon ist ein unmittelbarer Sohn dieser Zeit. Welche Rolle spielt der Bonapartismus für die Moderne?

Agnes Heller: Der Bonapartismus spielt eine äußerst komplizierte Rolle. Das Image Napoleons ist geprägt von der Frage der Freiheit, der Verallgemeinerung des Freiheitsbegriffs im Sinne Goethes und Hegels, und des Selfmademan. Neben Rothschild ist Napoleon der erste Selfmademan in der Geschichte. Sie symbolisierten als Erste die unbegrenzten Möglichkeiten der Einzelnen in der neuen Welt. Nicht zufällig identifizierten sich gerade Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Menschen in den „Irrenhäusern“ mit Napoleon.

Das bedeutet?

Napoleon prägte als Erster zugleich das Image des Führers, für den die Sitten nicht mehr verbindlich sind, der macht, was er persönlich durchzusetzen imstande ist, ohne sich um den Preis dieser Haltung zu kümmern.

Der Raskolnikow Dostojewskis ist eine literarische Ausarbeitung dieser Figur. Raskolnikows Modell war Napoleon – weil Napoleon über allen Gesetzen stand, stand er als kleiner Napoleon auch über allen Gesetzen und ist imstande, über Tod und Leben zu entscheiden. Wie Napoleon, so glaubten auch Hitler und Stalin, dass sie das Neue gegenüber einer alten Welt repräsentieren, eine Welt des Heroismus gegenüber der Welt der Vernunft und des Geldes. In diesem Sinne gibt es eine Identifikation mit der Idee „Napoleon“ bis weit ins 20. Jahrhundert.

Orientiert sich ein iranischer Präsident Ahmadinedschad an diesem Image Napoleon?

Diese modernen totalitären Regime, die letztlich nur eine Interpretation Napoleons aufnehmen – die Inkarnation des „Bösen“ –, orientieren sich eher an Robespierre: an der Verbindung von Tugend und Terror: „Wir sind tugendhaft und müssen den Terror ausüben, weil der Feind das Böse verkörpert.“

Als philosophische Lehrerin und Kosmopolitin bewegen Sie sich zwischen der Neuen und der Alten Welt: Begegnet Ihnen hier der Name Napoleons als Metapher oder Symbol?

In Amerika spielte Napoleon keine Rolle. Vergessen Sie nicht, dass in der Neuen Welt die großen Erzählungen, in denen Napoleon als „Weltgeist“ eine zentrale Rolle spielte, nicht von Belang waren. Die Weltgeschichte, das Weltgericht: dies existierte nie in Amerika. Hier glaubt man zwar an den Fortschritt – aber Fortschritt in kleinen Schritten. Die einzige Revolution der USA war der Gründungsakt der Förderation. Eine andere Revolution gab es hier nicht. In Europa hingegen erwartete man immer wieder neue Revolutionen. Es gab die Oktoberrevolution, aber auch Hitler sprach von der großen nationalsozialistischen Revolution. Und natürlich gab es auch im Iran eine „Revolution“.

Welche Rolle spielt Napoleon, der als Empereur durch Ägypten zog, in der arabischen Welt?

Die arabische Welt war immer auf der Suche nach einer Ideologie, um ihre Identität zu bestätigen. Hier orientierte man sich an den Images der totalitären Regenten des 20. Jahrhunderts. Der Islamismus orientiert sich in seinem Internationalismus am ehesten am Bolschewismus. Nicht nur arabische Länder sind durch den Islamismus mobilisiert, sondern auch viele andere Länder. Diese „Karikaturengeschichte“ zum Beispiel ist in diesem Sinne ja selbst eine Karikatur. Denn natürlich waren diese Karikaturen keine Karikaturen Mohammeds, sondern sie karikierten die Instrumentalisierung des Propheten für terroristische Zwecke. Der ganze Karikaturenstreit war im Grunde eine bewusste internationale Mobilisierung der Menschen für den gezielten Hass. Diese Mobilisierung zum Hass aber ist eine sehr späte moderne Erscheinung. Bei Napoleon gab es sie so nie. In seiner Welt gab es die Gewalt, den Krieg und den Enthusiasmus. In der heutigen Welt scheint der Hass dagegen immer schon zum Enthusiasmus zu gehören: Mich zumindest erinnerten die Bilder der mobilisierten Menschen in Pakistan und in der Westbank oder im Iran gegen die Mohammed-Karikaturen frappierend an die so genannte Kristallnacht. FRAGEN: FRITZ V. KLINGGRÄFF