Judensterne zählen

Unter spektakulären Umständen sind die Tagebücher des jungen Petr Ginz wiederentdeckt worden. Jetzt ist das eindrückliche Zeugnis jüdischen Lebens unter der Nazi-Besatzung auf Deutsch erschienen

Man nimmt den alltäglichen Tonfall als tröstlich wahr – das ist schrecklich

VON KATHARINA GRANZIN

Zum Schluss gibt es sogar noch ein bisschen Heiterkeit. Dankbar und berührt lachen alle, als Chava Pressburger auf der kleinen Pressekonferenz im Tschechischen Zentrum erzählt, wie ihre Eltern sich in den Zwanzigerjahren kennen gelernt haben. Auf einem internationalen Esperanto-Kongress nämlich, wo die junge Tschechin Marie Dolanská den dunkeläugigen, schwarzhaarigen Esperantisten, mit dem sie angeregt in der Kunstsprache parlierte, für einen Italiener oder Spanier hielt. Doch der Mann, in den sie sich verliebt hatte, war weder das eine noch das andere, sondern ein Landsmann – ein tschechischer Jude. Im März 1927 heirateten Marie und Ota Ginz.

Aus ihrer Ehe, die die Nazis wenig später „Mischehe“ nennen sollten, gingen zwei Kinder hervor: der 1928 geborene Petr und seine um zwei Jahre jüngere Schwester Eva, die ihren Namen zu „Chava“ hebräisierte, als sie später, wie die Eltern, nach Israel auswanderte. Eva und ihr Vater hatten den Holocaust überlebt, Petr war in Auschwitz ermordet worden. Er wurde sechzehn Jahre alt.

Doch obwohl er so jung war, als er starb, hat Petr Ginz viel hinterlassen. „Mein Bruder Petr war immer sehr tätig“, erinnert sich Chava Pressburger. Deshalb hatte er als vielseitig begabter Teenager bereits ein regelrechtes Oeuvre vorzuweisen. Er malte und zeichnete, schrieb Kurzgeschichten und Romane und gab, nachdem er als Vierzehnjähriger in Theresienstadt interniert worden war, mit Freunden eine illegale Ghetto-Zeitschrift heraus. Vieles ist erhalten geblieben. Ota Ginz schenkte die Zeichnungen, die Petr in Theresienstadt verfertigt hatte, zum größten Teil dem Yad Vashem Museum in Jerusalem. Das wiederum hatte zur Folge, dass viel, viel später, fast sechzig Jahre nach dem Kriegsende, auch das Tagebuch entdeckt wurde, das Petr 1941 bis 1942 führte, während des Jahres, das seiner Deportation unmittelbar vorausging.

Die Umstände der Wiederentdeckung dieser Hefte können mit gutem Grund spektakulär genannt werden, sind sie doch schicksalhaft verbunden mit einem tragischen Ereignis. Ilan Ramon hieß der erste israelische Astronaut, der ins Weltall flog – mit der Columbia. In seinem Gepäck befand sich auch eine Zeichnung aus dem Yad Vashem Art Museum, die Ramon zum Gedenken an den Holocaust mit ins All nahm. Sie stammte von Petr Ginz und zeigte eine schwarz-weiße Mondlandschaft. Und sie sollte nicht mehr zur Erde zurückkehren, denn am 1. Februar 2003 verglühte die Columbia beim Eintritt in die Atmosphäre. An genau diesem Tag wäre Petr Ginz 75 Jahre alt geworden.

Diese unwahrscheinliche Geschichte hatte zur Folge, dass insbesondere in Tschechien ein reges Interesse am Urheber der „Mondlandschaft“ auflebte. Eine Straße und ein neu entdeckter Planetoid wurden nach ihm benannt, eine Sonderbriefmarke wurde gedruckt und die Geschichte dieses Prager Jungen in tschechische Schullehrbücher integriert. Da rührte sich einer, der auf dem Dachboden seines Hauses ein paar alte Hefte gefunden hatte, und bot dem Yad Vashem Museum das Tagebuch von Petr Ginz zum Kauf an. Und Chava Pressburger scheint, als sie erzählt, wie sie versuchte, in den Besitz der Tagebücher ihres Bruders zu kommen, doch ein klein wenig von ihrer freundlichen Ausgeglichenheit zu verlieren: Da sie keinen Rechtsanspruch darauf hatte, musste sie die Hefte kaufen. Für wie viel, sagt sie nicht.

Petr Ginz' Tagebuch ist ein unvergleichliches Dokument jüdischen Lebens in Prag unter deutscher Besatzung. Es ist nicht zu vergleichen mit dem Tagebuch der Anne Frank. Petr lebte nicht im Untergrund, als er sein Tagebuch führte, und er war ein Junge. Er hat sein Tagebuch nicht genutzt, um einer imaginierten Freundin sein Herz auszuschütten, nicht für Reflexionen, Erinnerungen, Selbstdarstellung. Er hat seinen Alltag protokolliert, ganz nüchtern, nicht mehr und nicht weniger. Aufgeschrieben, was es in der Schule an Strafarbeiten gab, wie viele Judensterne er auf der Straße gezählt hat, was die Gans wiegt, die die Mutter aus der Provinz mitgebracht hat, welcher Onkel gerade deportiert worden ist. Solche Sachen. Ein Nebeneinander von kleinen und großen, harmlosen und schlimmen Dingen. Dazwischen gibt es Zeichnungen mit dokumentarischem Charakter: eine Karte der Umgebung des nahen Bahnhofs etwa oder, geradezu herzzerreißend in seiner Faktenfixiertheit, ein Lageplan des Hauses mit dem Weg, den der Vater zurückgelegt hat, als er nur im Hemd in den Keller ging und davon schwer krank wurde.

Ja, ein geregeltes, alltäglich zu bewältigendes Leben gab es auch für Juden. Zwar war es tausenderlei Beschränkungen und Diskriminierungen unterworfen. Aber es funktionierte in einer gut vorgetäuschten, perfiden Normalität. Die Kinder gingen in eine jüdische Schule, es gab Essensmarken. Der Onkel bekommt sogar, Monate vor der Deportation, eine eigene Wohnung zugewiesen.

Man versteht, wenn man diese sachliche kindliche Chronik liest, nur allzu gut, wie es möglich sein konnte, bis zuletzt zu hoffen, es würde vielleicht doch nicht ganz so schlimm werden. Denn beim Lesen geht es einem ja genauso, nimmt man den alltäglichen Tonfall dieser lapidaren Eintragungen („Der erste Schnee in diesem Jahr, allerdings mit Regen vermischt. Milošovi und wir haben eine Vorladung zur Registrierung bekommen.“) als irgendwie tröstlich wahr. Das ist schrecklich.

Der Berlin Verlag hat aus Petr Ginz' Heften ein sehr schönes, sonderformatiges Buch gemacht, in dem Texte von Chava Pressburger und anderen sowie Fotos, Bilder und Geschichten von Petr das Tagebuch wirkungsvoll ergänzen und kommentieren. Eine kleine Ausstellung zum Buch ist noch bis anfang Mai im Tschechischen Zentrum zu sehen. Und danach, so bietet der Verlag an, kann und soll sie wandern gehen. Am liebsten durch die deutschen Schulen.

Petr Ginz: „Prager Tagebuch 1941–1942“. Herausgegeben von Chava Pressburger. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Berlin Verlag, Berlin 2006, 167 S., 19,90 €ĽAusstellung mit Fotos, Bildern und Texten aus dem Buch: bis 5. Mai, Mo. 14–18 Uhr, Di.–Fr. 10–13 und 14–18 Uhr, Tschechisches Zentrum, Friedrichstr. 206. (Weitere Informationen unter www.czech-berlin.de.)