Vom Wohnen ohne Wohnung

OBDACHLOS Viola V. lebte ein halbes Jahr in Schöneberg unter der Autobahn, bis das Bezirksamt sie vertrieb. Funktionierende Hilfe für Menschen wie V. gibt es in Berlin nicht

Natürlich wolle sie eine Wohnung, sagte V. „Immer draußen hält doch keiner aus“

VON JUTTA HERMS

Seit zehn Tagen erstreckt sich nur noch leeres Pflaster unter dem Autobahnviadukt am Innsbrucker Platz. Dort, wo zwischen den mächtigen Betonpfeilern Viola V. wohnte, sind nur noch Fahrradfahrer und Passanten unterwegs. Von V. fehlt jede Spur.

In den vergangenen Monaten hatte sich die 55-Jährige hier ein „Open-Air-Apartment“ geschaffen. So nannte sie es selbst. Wer sie besuchte, wurde herzlich empfangen. V. lud ein, auf einem schwarzen Ledersofa Platz zu nehmen, und setzte sich gleich dazu. Während sich der Gast noch mühte, die Eindrücke von diesem ungewöhnlichen Ort zu ordnen und die wild bellenden Hunde zu ignorieren, präsentierte die Bewohnerin stolz Zeitungsartikel, die über sie erschienen waren: die Frau mit dem schrillem Outfit, die sich mit Hab und Gut auf einem öffentlichen Platz niederlässt.

Auch im Hochsommer trug Viola V. mehrere Schichten Kleidung. Ganz außen einen dunklen Hosenanzug, darüber bunte Ketten. Den Kopf bedeckten eine rotblonde Perücke und ein breitkrempiger Hut, die Augen waren bunt geschminkt.

In Chemnitz hatte Viola V. früher gelebt, erzählte sie ihren Besuchern. Jahrelang habe sie dort als Postangestellte gearbeitet. Dann sei sie krank geworden, habe epileptische Anfälle bekommen, eine Erwerbsunfähigkeitsrente erhalten. Irgendwann landete sie in Berlin, wurde einmal obdachlos, dann immer wieder.

Als sie sich Anfang dieses Jahres am Innsbrucker Platz niederließ, herrschte tiefer Winter. Mitarbeiter des Berliner Kältebusses erzählen, sie hätten V. bei Minusgraden unter einem Berg von Schlafsäcken gefunden. Sie ließ sie sich nicht dazu überreden, in eine Notunterkunft mitzufahren, auch später nicht. Ihr Lager war unwirtlich, aber hier schrieb ihr niemand etwas vor und ihre beiden Hunde passten auf.

Nach und nach richtete sich V. häuslich ein auf dem Platz, über den die Autos und S-Bahnen donnern. Sie sammelte alte Möbel, Kleidungsstücke, Haushaltsgegenstände. Sie teilte Schlaf- und Wohnbereich voneinander ab, hängte einen Spiegel an einen der Betonpfeiler, legte Schmuck und Schminke in die Schubladen, pflanzte Blumen in Töpfe. Die Hunde bekamen eine eigene Ecke. Wasser holte V. vom Bäcker, und als der ihr keins mehr geben wollte, vom Friedhof in der Nähe. Sie lagerte ihre Habseligkeiten in Einkaufswagen, die sie mit Decken vor fremden Blicken schützte. Es fehle ihr an nichts, pries sie ihr Wohnlager, doch wer öfters kam, hörte auch anderes: „Lange halte ich es hier nicht mehr aus“ oder „Ich habe Angst“.

Schutzlos ohne die Hunde

Als Anfang vergangener Woche die Stadtreinigung anrückte, war der Ort bereits verwaist. Mitarbeiter des Veterinäramts hatten zuvor V.s Hunde mit dem Hinweis auf Tierschutzbestimmungen an sich genommen, was die obdachlose Frau in Aufregung versetzte: Ohne die Tiere sei sie schutzlos. Dann verschwand sie.

Das Schreiben, das Viola V. Anfang August von einem Mitarbeiter des Bezirksamts überbracht wurde, forderte sie zur „Beendigung Ihres Lagerns auf öffentlichem Straßenland“ bis 18. August auf. Andernfalls müsse sie die Kosten für die Entsorgung tragen. Sofern sich es sich bei den vorgefundenen Gegenständen „laut Definition des Kreislaufwirtschaftsgesetzes“ um Abfall handele, würden sie „einer ordnungsgemäßen Entsorgung zugeführt.“

Der Grund für die „Abräumungsaufforderung“: Es lägen „zahlreiche Hinweise und Beschwerden“ vor. Durch die heißen Temperaturen habe sich „die Gestank- und Ungezieferproblematik so verstärkt“, dass die Behörde eingreifen müsse, „um diese gegenwärtige Gefahr abzuwenden“. Eine „anderweitige Unterbringung“ habe V. verweigert. Dabei antwortete V. ihren Besuchern auf die Frage, ob sie denn keine richtige Wohnung wolle: „Natürlich! Immer draußen, das hält doch keiner aus“.

Aber auch vor der Episode am Innsbrucker Platz hatten Sozialarbeiter immer wieder versucht, Viola V. bei der Suche nach einer Unterkunft zu unterstützen. Sie bissen sich die Zähne an ihr aus. Eine von ihnen ist Susanne von Boetticher. Die Leiterin der Charlottenburger Wohnungslosen-Tagesstätte Seelingtreff berichtet, über Jahre sei es ihr und ihren Kolleginnen nicht gelungen, V. eine Wohnung zu organisieren: Die obdachlose Frau habe sich immer entzogen. Einmal habe man V. eine Wohnung aus dem geschützten Marksegment anbieten können, erzählt von Boetticher, alles habe kurz vor dem Abschluss gestanden. „Dann erschien Frau V. nicht zum Termin beim Sozialpsychiatrischen Dienst und die Sache platzte.“ Warum? Die Sozialarbeiterin vermutet, Viola V. habe Angst. „Angst, sich in die Mühlen der Ämter zu begeben. Angst, Autonomie abzugeben.“

Wollen und Können gehe eben manchmal nicht zusammen, weiß Verena Graf. Sie leitet in München das Haus „Lebensplätze für Frauen“, das sich an jahrelang wohnungslose Frauen wendet, bei denen alle Mühe vergebens war, sie langfristig unterzubringen. 25 Frauen über 50 stellt die Einrichtung Apartments zur Verfügung, ohne Vorbedingungen wie die Bereitschaft, sich durch einen Sozialarbeiter betreuen zu lassen. Wer Beratung und Hilfe wünscht, bekommt sie aber.

In Berlin gibt es, wie in den meisten deutschen Großstädten, kein derartiges Angebot. Dabei ist das Modell vielversprechend: Mit bestimmten Mitwirkungspflichten bei der Unterbringung in einer Wohnung seien manche obdachlose Menschen einfach überfordert, so Graf. Aber das niedrigschwellige Angebot funktioniert: Von den 25 Frauen, die vor knapp zwei Jahren in das Haus eingezogen sind, ist bislang keine wieder ausgezogen.

Sie wolle Berlin verlassen, hat Viola V. kurz vor ihrem Verschwinden gesagt. Ob bei der Räumung ihres Wohnlagers Gegenstände aufbewahrt wurden, ist unklar. Der zuständige Stadtrat Oliver Schworck vom Ordnungsamt Tempelhof-Schöneberg verweigerte tagelang hartnäckig einen Rückruf.