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„Wie eine verborgene Ader“

ORIENTALISMUS ODER ORIENT Die Arabistin und Musikerin Claudia Ott lebt in Beedenbostel in der Südheide, gefühlt also so weit weg vom Orient, wie es überhaupt geht. Dort übersetzt sie „1001 Nacht“ und Erzählungen aus al-Andalus, der Blütezeit des arabischen Europa

Claudia Ott

■ 45, Orientalistin und Musikerin, ist als Übersetzerin eine der wichtigsten Vermittlerinnen arabischer Kultur ins Deutsche.

■ Starke Beachtung findet seit 2004 ihre Neuübersetzung von „1001 Nacht“, die in der 15. Auflage vorliegt, sowie die Erstübersetzung der Erzählungen aus „101 Nacht“. Durch die Akzentuierung des Lyrischen der Texte und in ihren Konzertlesungen belebt Ott die enge Verbindung von Literatur und Musik im Orient wieder.

■ Werke (Auswahl): „Tausendundeine Nacht“ nach der ältesten arabischen Handschrift; „Gold auf Lapislazuli – Die 100 schönsten Liebesgedichte des Orients“; „101 Nacht“, aus dem Arabischen erstmals ins Deutsche übertragen

INTERVIEW BENNO SCHIRRMEISTER

taz: Frau Ott, diese Lesepulte – sind die nur Deko?

Claudia Ott: Nein, ich arbeite damit – eigentlich immer. Die Bücher fühlen sich darin einfach wohler.

Die fühlen sich wohl?

Nun, ich würde nicht so weit gehen, zu behaupten, dass Bücher eine Seele haben. Aber diese Ständer erlauben es, ein Buch gerade so weit zu öffnen, dass man es bequem lesen kann, ohne seine Bindung zu strapazieren. Ich frage mich schon lange, warum die europäische Kultur diese geniale, jahrhundertalte Erfindung der arabischen Bücherwelt nicht längst in ihre Bibliotheken übernommen hat: Die Holzbücherstützen sind schmuckvoll, unverwüstlich, lassen sich bequem zusammenklappen – und erzeugen darüber hinaus eine zauberhafte orientalische Atmosphäre, sogar hier auf meinem Schreibtisch in Beedenbostel.

Das ist gefühlt der Ort maximaler Entfernung vom Orient.

Oh ja, das trifft es. Das empfinde ich genauso.

Und trotzdem leben Sie hier?

Ich kann hier hervorragend arbeiten. Alle meine Übersetzungen entstehen hier, wo die gewisse Zurückgezogenheit mir die Konzentration erleichtert.

Ist das Bedürfnis danach besonders groß, weil die Texte der arabischen Welt entstammen, die so gar nicht zur Ruhe kommt?

Die politische Lage im Nahen Osten kommentiere ich als Literaturübersetzerin nicht gern. Natürlich betrifft sie mich auch persönlich. Ich war und bin oft in arabischen Ländern unterwegs und habe dort Freunde und Kollegen – auch manche, die inzwischen geflohen sind. Aber genau das bestärkt mich darin, den allgegenwärtigen Konflikten und der Masse von schlechten Nachrichten die Literatur als eine Quelle von Fantasie, Träumen und Lebensweisheit entgegenzusetzen. Die ist gerade in so schweren Zeiten umso wertvoller.

Im Sinne des Erzähl-Programms von „1001 Nacht“?

Das stimmt: Erzählen ist dort existenziell. Und ein bisschen kann man das vielleicht übertragen auf eine Situation, in der für sehr viele Menschen der Alltag in der arabischen Welt bedrohlich geworden ist und für manche eben doch in der Kunst ein Hoffnungsschimmer liegt …

den Sie auch hier zugänglich machen, wo man den Orient fast nur als Bedrohung sieht?

Das ist ja das Schöne an der Aufgabe, „1001 Nacht“ zu übersetzen: Ich darf mich mit Texten beschäftigen, die zwar nicht nur von den Sonnenseiten des Lebens berichten – aber von einer grundsätzlichen Fröhlichkeit geprägt sind, von Lebensfreude. Das empfinde ich als ein großes Glück. Jeden Morgen.

Hatten Sie sich darum beworben?

Überhaupt nicht. Ich war gerade promoviert und nach Kairo gezogen, um dort Musik zu studieren, Nay, eine arabische Flöte. Dort hat mich der Verlag C. H. Beck kontaktiert. Es ging um den Plan, genau 300 Jahre nach der Erstübersetzung von „1001 Nacht“ ins Französische dieselbe Handschrift, die Antoine Galland 1704 dafür benutzt hatte, ins Deutsche übersetzen zu lassen. Diese Handschrift aus dem 15. Jahrhundert ist die älteste, die wir bis heute von Tausendundeine Nacht in substanziellem Umfang kennen. Sie hatte bis dato eine Art Dornröschenschlaf geschlummert, aus dem sie erst ihr Herausgeber Muhsin Mahdi 1984 aufgeweckt hat. Ins Deutsche hatte sie zuvor noch keiner übersetzt.

Und Sie?

Dieser Auftrag hat mein Leben verändert, weil ich damals schlagartig begriffen habe: Das ist deine Aufgabe. Und das ist sie geblieben, und wird es hoffentlich noch lange bleiben. Denn die von Galland benutzte Handschrift bricht ja nach der 282. Nacht mitten in der Geschichte ab. Und ich arbeite jetzt an der Fortsetzung.

bis die 1001 Nächte vollzählig sind?

Ein arabisches Sprichwort besagt: Wer das Ende von „1001 Nacht“ erreicht, dem widerfährt im selben Jahr ein grässliches Unglück.

Daran glauben Sie?

Sagen wir es einmal so: Ich glaube nicht, dass es möglich ist, in der reichen Überlieferung all jener Geschichten, die einmal das Label „1001 Nacht“ aufgeklebt bekamen, je an ein Ende zu gelangen. „Vollständige“ Ausgaben, die exakt 1001 Nächte enthalten, gibt es ja auch im Deutschen schon genug. Nur basieren die auf Versionen, die schon vom europäischen Blick auf das Werk geprägt sind, der die Überlieferung seit Galland stark beeinflusst hat. Mein Interesse ist es, die orientalische Überlieferung von „1001 Nacht“ ins Deutsche zu bringen. Und davon ist das, was bislang im Beck-Verlag erschienen ist, eben nur der erste Teil, vom Anfang der Rahmengeschichte bis zur 282. Nacht.

Und die westlichen Ergänzungen schneiden Sie ab?

Glücklicherweise muss ich gar nichts abschneiden. Ich greife nur zu älteren, vom europäischen Einfluss noch unberührten Quellen. Es geht mir nicht darum, mit anderen Übersetzungen zu konkurrieren.

höchstens mit Ihrer eigenen neuesten Veröffentlichung: „101 Nacht“ klingt ja, als wär’s eine Kurzfassung?

Zunächst lässt man sich da gern in die Irre führen. Manche Leser glauben sogar, im Titel fehle eine Null. Das ist aber nicht der Fall! „101 Nacht“ und „1001 Nacht“ sind zwei voneinander unabhängige Werke. Ich nenne „101 Nacht“ immer: Die kleine Schwester von „1001 Nacht“. Auch Schwestern sind ja eng verwandt, aber manchmal sehr verschieden. Bei diesen beiden ungleichen Schwestern ist es so: Nur zwei Erzählungen tauchen in beiden auf, alle anderen Geschichten aus „101 Nacht“ sind neu – wenn auch um Jahrhunderte älter als alles, was wir von „1001 Nacht“ kennen!

Und bislang vollständig unbekannt?

Für die Leser sind es alles neue Geschichten, noch dazu höchst spannende und unterhaltsame. Sie erzählen von Rittern und Lindwürmern, von Verliebten und Ehebrechern, von Kapitalisten und der Schuldenfalle, von Flugapparaten und Automatentechnik. Die „101 Nacht“ enthält sogar den ältesten Bewegungsmelder der Weltliteratur. Dass es diese kleinere Schwester von „1001 Nacht“ gibt, war der Fachwelt schon lange bekannt. Nur stammt die bis dahin älteste bekannte Handschrift aus dem späten 18. Jahrhundert. Und nun ist es gelungen, eine Handschrift aus dem frühen 13. Jahrhundert, um 1234, zu identifizieren. Das ist eine riesige Sensation.

und auch fast märchenhaft: Sie haben die Handschrift in einer Berliner Ausstellung mit Schätzen des Aga-Khan-Museums entdeckt. Das ist eine seriöse Institution, von der man denkt: Die weiß, was sie so besitzt.

Das tut sie auch. Dem Aga-Khan-Museum ist kein Vorwurf zu machen. Es war nur so, dass ich zufällig die erste „Expertin“ war, die mit einem gewissen Tunnelblick für genau dieses Thema an der Handschrift vorbeiging. Ein weiterer Glücksfall war, dass die Handschrift auf einer Seite aus „101 Nacht“ aufgeschlagen war, und nicht auf einer Seite des mittelalterlichen Geografiebuchs, mit dem sie zusammengebunden ist. Es handelt sich ja um eine Sammelhandschrift.

Ist das ein Hinweis darauf, wie diese Märchen gelesen wurden?

Eher nicht. Bei arabischen Handschriften begegnen wir oft dem Phänomen, dass unterschiedliche Werke in einem Band zusammengebunden sind. Und hier haben wir eine scharfe Trennung zwischen dem seriösen Geografiebuch und der Unterhaltungsliteratur. Was unsere beiden Werke verbindet, ist, dass sie aus dem arabischen Westen stammen, aus al-Andalus oder Nordafrika, jedenfalls aus dem „Okzident des Orients“.

Was frappiert: Bei der Lektüre von „101 Nacht“ denkt man ständig: Komisch, kenne ich aus Ariosts „Rasendem Roland“ oder aus Grimms Märchen, ist aber viel älter.

Ja, das ist erstaunlich und zugleich historisch leicht erklärbar. Denn über al-Andalus ist sehr vieles aus der arabischen in die europäische Kultur eingedrungen. Denken wir nur an die antike Wissenschaft, aber auch an Kulturpflanzen wie Zitrone oder Artischocke oder an praktisch alle im Westen gebräuchlichen Musikinstrumente. Wenn wir also in Grimms Märchen lesen, wie die Königin ihren Spiegel befragt, in einer ganz ähnlichen Szene wie der, die in „101 Nacht“ die Rahmenerzählung eröffnet, so ist das keine Sensation. Es entspricht nur einem breiten und gut ausgebauten Überlieferungsweg. Vielleicht ist es das, was uns „101 Nacht“ heute sagen kann: Das Buch lässt diese lebendige Verbindung zwischen der arabischen und der europäischen Kultur wieder aufscheinen, so wie eine verborgene Ader, deren Verlauf man mit einer Markerflüssigkeit sichtbar gemacht hat. Das ist meine Hoffnung.

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