Verdammt noch mal, können wir mal über andere Fragen diskutieren?

VERDROSSENHEIT Gott sei Dank gibt es eine Zeit nach den Politikapparatschiks, sagt Wahlverweigerer Harald Welzer. Der Soziologe übers Schrumpfen, über Nachtflüge und einen extrem guten Wahlslogan

Jg. 1958, Sozialpsychologe, Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg und Direktor von „Futur Zwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit“. In seinem neuesten Buch, „Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand“, fordert er einen reduktiven Lebensstil – im Gegensatz zum „Alles immer“. Am 22. September will er zum ersten Mal eine Wahl verweigern, er nannte das in einem Essay (Spiegel, 27. 5. 2013) „einen Akt der Aufkündigung des Einverständnisses“. Das Wahlergebnis will er sich ab 18 Uhr im Fernsehen „aber ganz sicher“ angucken.

INTERVIEW HANNA GERSMANN
UND ULRIKE WINKELMANN

taz: Herr Welzer, am Abend des 22. September ist klar, dass die FDP in der Regierung bleibt – dank der vielen engagierten Nichtwähler. Glückwunsch!

Harald Welzer: Ach, dieses Kalkulieren mit Prozenten, und wer dann mit wem eine Koalition macht, das interessiert mich nicht so.

Sie haben ein Plädoyer für das Nichtwählen gehalten und so anderen eine Rechtfertigung gegeben, auch nicht zu wählen. Es hat auch mit Ihnen zu tun, wenn Schwarz-Gelb bleibt.

Ich habe keine Aufforderung zum Nichtwählen gegeben, ich habe nur mitgeteilt, dass ich nicht wähle. Es ist für mich kein Unglück, wenn die FDP in die Regierung kommt. Ich finde die FDP absolut gruselig. Aber ich habe mich selbst überredet nicht zu wählen, weil ich dem Trug nicht mehr aufsitzen möchte, dass es einen qualitativen Unterschied macht, welche Koalition regiert.

Warum nicht?

Zweierlei: Es war eine rot-grüne Regierung, die bis zum Jahr 2005 enttäuschende, weil deregulierende Politik gemacht hat. Zudem sehe ich keine denkbare Konstellation, die für das stehen, was mit den Herausforderungen der Zukunft zu tun hat. Insofern halte ich es am Ende nur noch für ein ästhetisches Problem, ob die FDP drin ist oder nicht.

Die FDP will die Mietpreise nicht deckeln. Mieter könnte das interessieren. Sie haben ein Haus?

Schon, aber wir wollen doch nicht ernsthaft darüber diskutieren, was jetzt unter vorkoalitionären Bedingungen in den Wahlversprechen oder -ansagen steht. All das entscheidet sich doch erst nach dem 22. September. Ich möchte mich auf die Suggestionen von Politikdarstellung überhaupt nicht einlassen.

Mit der CDU wird es keinen einheitlichen Mindestlohn geben. Die SPD fordert 8,50 Euro pro Stunde. Das ist ein Unterschied für die Leute, die im Osten einen Friseurjob haben. Das ist Ihnen nicht wichtig?

Ich weise das zurück. Das ist mir überhaupt nicht unwichtig. Ich halte es aber für unzureichend, mich daran festzuhalten, was die nuancierten Unterschiede sind. Warum reden wir nicht darüber, warum es unter den von Ihnen favorisierten Parteien vermieden wurde, einen Mindestlohn einzuführen? Es sind doch dank Rot-Grün die Löhne überhaupt erst so gefallen – auf ein Niveau, das jetzt im Zuge der Eurokrise ganz Südeuropa in Bedrängnis bringt. Wieso also soll ich mich im seligen Glauben sonnen, dass soziale Gleichheit wieder zum Herzensanliegen der Sozialdemokraten geworden ist?

Aufgrund ihrer eigenen Forschung. Sie haben selbst darüber geschrieben, wie sich in verblüffend kurzer Zeit Bewertungsmaßstäbe von Menschen stark verändern können.

Aber nicht bei der SPD. Schauen Sie sich doch das Konglomerat aus Steinbrück’schen Programmatiken, Revision von Agendapolitik und dem an, was den Wahlkampfmanagern oder Frau Merkel einfällt. Man muss sich als Wähler schon etwas ernster nehmen, als das zu glauben. Ich treffe doch eine politische Entscheidung nicht nach dem, was jetzt aus Opportunität ein paar Wochen vor der Wahl mitgeteilt wird, sondern danach, wie zuletzt agiert wurde.

Warum wählen Sie dann jetzt nicht die Linkspartei, die genau auf diesem Ticket Politik macht?

Weil ich die Politik der Linken aus anderen Gründen nicht mehr für zeitgemäß halte.

Wie eingebildet muss man eigentlich sein, um die politischen Programme sämtlicher Parteien als zu schlicht abzukanzeln, weil niemand bei der eigenen Analyse der Weltlage angekommen ist?

Was hat das mit Einbildung zu tun? Warum sollte ich als politischer Bürger darauf verzichten, meine Meinung zu artikulieren?

Kann man verlangen, dass eine Partei hundert Prozent Übereinstimmung mit den eigenen Positionen liefert?

Natürlich wäre die Forderung nach hundertprozentiger Übereinstimmung naiv. Aber ich stelle die Frage, inwieweit sich die Parteienvertreter bemühen, auf die Probleme der Welt zu reagieren. Das konnte ich über Jahrzehnte zum Beispiel bei den Grünen oder bei den Sozialdemokraten noch sehen. Aber ich sehe es nicht mehr.

Zu sehen sind Lobbyisten, die längst am Werk sind – gegen die Energiewende, gegen die Bürgerversicherung. Würden Union und SPD diese Angriffe gleichermaßen abwehren?

Nein. Wobei ich hier den Grünen noch eher vertraue als der SPD. Aber auch dabei reden wir nur über nuancierte Unterschiede. Das ist nicht das, was mich umtreibt.

Sie verlangen eine Partei zur Propagierung der Schrumpfung. Die ist nicht im Angebot. Warum gründen Sie keine eigene Partei?

Ich fordere keine Partei der Schrumpfung. Ich wünsche mir, dass zumindest einzelne Politikerinnen oder Politiker die Frage in die etablierten Parteien hineintragen, wie eine moderne Gesellschaft nach dem Wachstum funktioniert und aussieht. Sie sollen sich darüber Gedanken machen, dass man mit den Fortschrittsvorstellungen aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert nicht einfach so weitermachen kann wie bisher. Das ist keine Petitesse. Moderne Gesellschaften müssen lernen, mit weniger auszukommen und nicht mit mehr. Das ist der zentrale Gegenstand meines Interesses und meiner Forschung.

Aber mehrere Parteien arbeiten doch mit dem Begriff des qualitativen Wachstums: die Ressourcenverschwendung durch technischen Fortschritt zu beenden.

Das ist die Suggestion, dass man Wirtschaftswachstum auf eine andere, nämlich überlebensdienliche Weise machen kann. Das kann man aber nicht.

Welchen Slogan müsste eine Partei haben, die Sie wählen würden?

Es gab mal einen Slogan, der mir extrem gut gefallen hat: „Ihr seid die mit den Antworten, wir sind die mit den Fragen“. Die Partei …

das waren die Piraten …

… hat andere Probleme, aber der Slogan ist emanzipativ. Ich behaupte ja nicht, dass es auf meine Fragen schon in Marmor gemeißelte Antworten gäbe. Aber ich will einen Raum des Politischen aufmachen, in dem diese Fragen thematisiert werden.

Sie sagen aber auch, dass 147 Konzerne den Globus beherrschen und dass sich Politik daher ohnehin nicht mehr lohnen würde.

Dies ist ein Befund, der eine Frage aufwirft, eine Frage nach der Entmächtigung der Politik. Ich sage aber nicht, dass es sich nicht lohnt darüber nachzudenken, wie man politisch dagegen vorgehen soll. Ganz im Gegenteil.

Braucht die Politik dann nicht erst recht das Votum der Wählerinnen und Wähler als Unterstützung?

Meinetwegen. Ich sage ja nicht, dass alle nicht mehr wählen sollen. Ich sage nur als politischer Bürger mit einer gewissen publizistischen Öffentlichkeit: Verdammt noch mal, können wir vielleicht mal über andere Fragen diskutieren? Ich sage doch nicht, dass das politische Engagement der Bürger sich darin erschöpfen muss, alle zwei Jahre bei einer Landtags- oder Bundestagswahl ein Kreuzchen zu machen.

Das ist aber nicht angekommen.

Im Moment wird intensiv über das Wählen diskutiert. Was Besseres können sich die Kollegen und Kolleginnen in den Parteien doch gar nicht wünschen.

Das Problem sind aber nicht die intellektuellen Nichtwähler, sondern die Nichtwähler, die materiell abgehängt sind. Müssten wir nicht über den Zusammenhang zwischen Nichtwohlstand und Nichtwählen reden?

Reden Sie doch darüber! Ich habe nicht die Omnipotenzfantasie, dass ich mir alle Gedanken mache. Das heißt aber nicht, nur weil ich nicht über alles geschrieben habe, dass ich irgendetwas blockiere.

Herr Welzer, einzelne Leute können etwas anstoßen, um weniger Energie, weniger Ressourcen zu verbrauchen. Um quantitativ etwas zu erreichen, braucht man aber Gesetze. Welche Politiker sollen die noch machen?

Vielleicht gerade nicht die Grünen, wenn sie so naiv sind, grünes Wachstum zu plakatieren. Wenn sie ein Nachtflugverbot propagieren, anstatt das notwendige Ende des massenhaften Flugverkehrs zu fordern.

Brauchen wir eine Ökodiktatur?

Quatsch. Nein, man muss darüber sprechen, dass diese Form von Mobilität nicht möglich ist.

Das weiß doch schon jeder.

Wenn ich plakatiere: Nachtflugverbot jetzt, plakatiere ich gleichzeitig: Fliegen ist in Ordnung. Fliegen ist aber nicht in Ordnung. Man muss das Fliegen nicht verbieten, aber man kann es zu teuer machen, zu unattraktiv machen, zu unmodisch. Man muss es auf allen Ebenen attackieren.

Eine Partei, die solches vorschlägt, kommt nicht auf 5 Prozent. Erinnern Sie sich an den Beschluss der Grünen vor der Bundestagswahl 1998, dass der Liter Benzin 5 Mark kosten sollte?

Du meine Güte! Hört man auf zu denken, wenn man vor fünfzehn Jahren einmal einen richtigen Beschluss falsch dargestellt hat? Es kann nicht der Inhalt des Politischen sein, nur zu überlegen, welche Dinge man fordern muss, um gewählt zu werden. Mit solchem Denken in Garantiescheinen funktioniert Veränderung nicht. Es wäre doch längst den Versuch wieder wert, einmal einen sinnvollen, weitreichenden ökologischen Beschluss zu fällen und diesen auch laut zu vertreten.

Wer sind die Leute, die Ihnen in den Parteien Grund zur Hoffnung geben ?

Niemand. Jedenfalls keiner von denen, die da in der ersten Reihe stehen.

Was gibt Ihnen Hoffnung, dass es zu einer Veränderung von Politik kommen kann?

Wir haben so viele Neugründungen von Genossenschaften, so viele Ansätze für Gemeinwohlökonomie, so viel praktische Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen auch von jüngeren Leuten. Mit der jetzigen Generation von Politikapparatschiks müssen wir ja Gott sei Dank nicht durch das Jahrhundert kommen.