Nachdenken über Kontrollsysteme

KUNST Vier Künstler sind für den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst nominiert. Ihre Arbeiten sind im Hamburger Bahnhof zu sehen. Die Gewinnerin wird in einem der Häuser der Nationalgalerie ausstellen

Die Besatzer parodierten die indigene Bevölkerung, indem sie ihre Kostüme kopierten

VON JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER

Wie der Preis der Nationalgalerie für junge Kunst in diesem Jahr daherkommt, ist eine positive Überraschung. Die Künstler bespielen einen je eigenen Bereich, den sie räumlich gekonnt nutzen, als wollten alle vier verdeutlichen, dass sie für die große Einzelausstellung prädestiniert sind. Das passt zur neuen Ausrichtung des Preises, der erstmals nicht mit 50.000 Euro dotiert ist. Das Rennen dreht sich nun um die nächste erstrangige Museumsausstellung in einem der Häuser der Nationalgalerie. Eine Neuerung, die begrüßenswert ist und in Gestalt der Ausstellung schon jetzt ihre Früchte trägt.

Bereits vom Treppenabsatz fällt der Blick auf Simon Dennys „Medienbanner“. In der rechten oberen Treppenhaushälfte stehen Leinwanddrucke dicht aufeinander folgend von der Wand ab, die steckbriefartig Fotos zeigen und Slogans verbreiten. Sie sind die Vorreiter eines Tafelmeers, das im ersten Stock folgt. Dennys 90-teilige Installation dekliniert die Sprache und Ästhetik der „Digital-Life-Design-Konferenz“ von 2012 in München durch. Der neuseeländische Künstler lässt den jährlichen Mega-Event der einflussreichsten Protagonisten der IT-Wirtschaft als Informationshäppchen Revue passieren. Man schmunzelt über Aussagen wie: „Eine der besten Sachen an der digitalen Revolution ist, dass du auf der Straßen mit dir selbst reden kannst und es okay ist.“ Oder wird nachdenklich, wenn es heißt: „Unsere Städte sind zum ersten Mal Echtzeit-Kontrollsysteme.“ Für eine Sekunde bleibt das Gelesene im Kopf hängen, bis die nächste Headline vorbeiläuft. Wie im Netz wird entweder schnell durchgebrowst oder immer tiefer in den Datenfluss eingetaucht.

Während Denny das schnelllebige Internet-Zeitalter porträtiert, kreiert Haris Epaminonda eine aus der Zeit gefallene Traumwelt, die zu einer langsamen, assoziativen Reise einlädt. Ein Gang führt in einen White Cube, in dem minimale schwarze Metallobjekte und kleine Felsbrocken rätselhaft in Erscheinung treten. Sie dienen als Vorboten einer vier Stunden langen Videoinstallation, die an entlegenen Orten von Epaminondas Heimatinsel Zypern spielt. „Chapters“ (2013) fesselt mit poetischen, minutiös inszenierten Bildsequenzen, die archaisch-mythische Rituale, Liebes- und Sehnsuchtsassoziationen anklingen lassen. Der gesamte Film teilt sich auf vier Leinwände auf, die aber nie alle gleichzeitig anzusehen sind und im Dauerloop durch unterschiedliche Längen zu immer neuen Bildkonstellationen im Raum führen. Die Zusammenführung der Szenen findet letztlich vor dem inneren Auge statt.

Geht es bei Epaminondas Wahl von Objekten und Bildern auch um ästhetische Verknüpfungen, akzentuiert Mariana Castillo Deball die kulturelle Bedeutung hinter den Dingen. Ihre spielerische Inszenierung dreht sich um zwei Artefakte aus Mexiko. Überraschend lädt ein schwarzer Holzboden, in den ein altertümlicher Stadtplan gefräst ist, zur Begehung ein. Er entspricht einer vergrößerten Version jener berühmten Karte, die im 16. Jahrhundert das europäische Bild der mexikanischen Hauptstadt entscheidend prägte. Eingezeichnete Pyramiden und Opferstätten verweisen auf den aztekischen Ursprung, vermitteln aber auch ein Bild jenes Volkes, das es zu zivilisieren galt. Ihre Aztekenstadt bevölkert Deball mit Karnevalskostümen. Die spanischen Besatzer brachten ihr Narrenfest mit und parodierten damit in der Neuen Welt die indigene Bevölkerung, indem sie deren Kostüme kopierten und mit eigenen Motiven besetzten. Diese Tradition dauert bis heute an, nur bilden die farbenfrohen Symbole heute das letzte Zeugnis einer zerstörten Kultur.

Kritisch geht es auch bei Kerstin Brätsch zu. Die Malerin unterwirft ihre Praxis einer beständigen Prüfung. Was dabei herauskommt, hat Laborcharakter. Den Raum dominiert eine Serie provisorisch an die Wand gepinnter, großformatiger, abstrakter Malereien auf Papier, die Künstlerin spricht auch von Notizen. Die „Psychic Series“ (2005–2008) war ihr künstlerischer Befreiungsschlag – bunte, energiegeladene Gebilde, die gleichzeitig zu kollabieren scheinen. Ihnen stehen mitten im Raum farbige Glasscheiben gegenüber, als träten sie an, den Werken an den Wänden zu zeigen, wo es lang geht, schließlich können sie sich von beiden Seiten sehen lassen. Der performative Charakter ihrer Arbeiten steht für Brätsch im Vordergrund. Er findet sich auch in einer kollaborativen Dia-Serie, die Brätsch gemeinsam mit Adele Röder unter dem Label „Das Institut“ geschaffen hat. Beide Frauen lassen darin ihre Gesichter zur Leinwand werden, die sie mit malerischen Konturen grotesk inszenieren. Dass Brätsch ältere Arbeiten zeigt, folgt dem neuen Reglement des Preises. Denn ab sofort soll die gesamte künstlerische Entwicklung der Ausgewählten in die Entscheidung einfließen, wer gewinnt.