Das innere Ausland

KAUKASUS Russlands Politik der Gewalt hat die Instabilität institutionalisiert. Der Separatismus ist besiegt, der Islamismus umso stärker

„Verläuft ein Tag im Kaukasus mal unblutig, horchen wir auf“, sagt ein russischer Regierungsbeamter

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Am frühen Morgen brach die Gruppe auf. Sie wollte in den Bergen rund um Arschty wilden Knoblauch sammeln. Doch von ihrem Ausflug kamen die Männer und Frauen nicht zurück. Ein Spezialkommando russischer Sicherheitskräfte hielt die Sammler für eine Truppe islamistischer Untergrundkämpfer. Zunächst machte die Version die Runde, dass die Gruppe aus Arschty im Süden der Republik Inguschetien aus einem Hubschrauber irrtümlicherweise erschossen worden sei. Die Leichenschau später ergab etwas anderes. Die Körper waren auf bestialische Weise mit Messern und Hacken geschändet worden.

Nur durch einen Zufall wurde das Schicksal dieser Gruppe bekannt. Denn Morde und Attentate, Überfälle und Entführungen gehören im Nordkaukasus zum Alltag. Im vorigen Jahr wurden in Russland mehr als 800 Anschläge und Attentate verübt, die meisten davon in den Teilrepubliken des Nordkaukasus. Meldungen aus dieser Region sind wie Nachrichten von der Front. „Verläuft ein Tag mal unblutig, horchen wir auf“, sagt ein russischer Regierungsbeamter.

Sofern russische Medien von Gewalt und Opferzahlen im Kaukasus berichten, nimmt die Öffentlichkeit die fernen Schrecken eher wie Ereignisse aus einer fremden Welt wahr. Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat sich die kaukasische Landbrücke zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer zu einer Art innerem Ausland entwickelt.

Zwar ist der Kaukasus ökonomisch von Russland abhängig, ansonsten lebt der ethnische Flickenteppich am „Berg der Sprachen“, wie der antike Plutarch den Kaukasus nannte, nach eigenen Gesetzen. Auch der Westen nimmt die Region nur beiläufig wahr. Terrorakte mit Dutzenden von Toten sind selten mehr wert als eine Kurznotiz.

Nach der gewaltsamen Befriedung der abtrünnigen Republik Tschetschenien Anfang des Jahrtausends war der Kreml davon überzeugt, den islamistischen Terrorismus in der gesamten Region ein für allemal besiegt zu haben. Der Anschlag der Selbstmordattentäterinnen in Moskau vorige Woche lässt das bezweifeln.

Es war also nicht mehr als eine längere Ruhephase, die die gnadenlose Ausrottung islamistischer Untergrundkämpfer bewirkte. Der ehemalige Präsident Wladimir Putin vertraute auf eine Politik der Gewalt und gab seinem Statthalter in Grosny, Präsident Ramsan Kadyrow, im Umgang mit den Rebellen freie Hand. Diesem gelang es auch, den Konflikt örtlich zu betäuben, ohne dass dadurch der radikale Wahhabismus die Attraktivität verloren hätte, die er gerade bei der Jugend genießt.

Der wahllose Einsatz von Gewalt gegen bloße Verdächtige und die Ausweitung mittelalterlicher Sippenhaftung trieb Jugendliche in den letzten Jahren scharenweise zu den Rebellen in die Berge. Vor allem führte die Gewaltpolitik jedoch dazu, dass sich die radikalen islamischen Strömungen auch auf Nachbarrepubliken ausweiteten, in denen sie zuvor nicht präsent gewesen waren, in die Republik Kabardino-Balkarien etwa.

Lange Zeit war der Islam im Nordkaukasus eine Mischung aus dem Gewohnheitsrecht und einer ritualisierten Glaubensausübung, die sich dem Weltlichen nicht versagte. Seit dem Ende des Tschetschenien-Krieges hat sich dies grundlegend gewandelt. Am deutlichsten wird dies an der Entwicklung in Inguschetien, neben Dagestan und Tschetschenien die unruhigste Republik. Im Tschetschenien-Krieg hatte sich Inguschetien noch gegen eine Ablösung von Russland ausgesprochen. Auch religiöse Extremisten hatten in der Bevölkerung keinen Rückhalt, solange Präsident Ruslan Auschew die kleine Republik regierte. Doch die Selbständigkeit des Generals und Afghanistanveteranen widersprach der Moskauer Politik, die auf strikte Loyalität und Unterordnung bestand. Putin sorgte dafür, dass Auschew von Murat Sjasikow,einem Mann des FSB-Geheimdienstes, abgelöst wurde.

Danach ging es in Nasran drunter und drüber. Die alten Eliten wurden entmachtet, wenn sie sich nicht mit den neuen Machthabern arrangierten. Dennoch erwies sich Sjasikow als ein schwacher Präsident, der auch im eigenen Mitarbeiterstab keine Autorität besaß. Die Apparate verselbständigten sich und beschäftigten sich vornehmlich mit Selbstbereicherung. Die Kluft zwischen der neuen Elite, die Politik und Wirtschaft monopolisierte, und der verarmenden Bevölkerung verbreiterte sich in rasantem Tempo. Die Republik versank in Chaos und Willkürherrschaft.

So wurde der Nährboden für Rebellen und Fundamentalisten geschaffen, die aus dem Chaos ein gutes Geschäft machten und gelegentlich auch mit den Sicherheitsorganen zusammenarbeiteten. Mittlerweile finanziert sich der islamistische Untergrund zu nicht geringem Teil aus Erpressungsgeldern. Beamte, darunter auch die Familie des Präsidenten, zahlten monatliche Schutzgelder, um von Anschlägen der Rebellen verschont zu bleiben.

Moskaus Regierungsmodell der Machtvertikalen, die mit der Personalisierung von Politik einhergeht, erweist sich überall als untauglich, das Land zu regieren, am allerwenigsten den ethnisch wie kulturell sehr heterogenen Kaukasus. So gut wie nirgends im Kaukasus ist der Staat noch dazu in der Lage, elementare Aufgaben zu erfüllen und die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren oder das Schul- und Gesundheitswesen aufrechtzuerhalten. Staat und Gesellschaft existieren in Parallelwelten. In traditionalen Gesellschaften wie den kaukasischen, die ohnehin in engen Familien- und Sippenbanden leben, wirkt sich das auf die soziale und soziokulturelle Entwicklung besonders abträglich aus. „Eine Archaisierung aller sozialen Verhältnisse findet statt“, meint der russische Kaukasusexperte Alexei Malaschenko. „Die Region degradiert und fällt zurück ins Mittelalter.“ Moskaus Politik der Gewalt hat – statt Stabilität zu erzeugen – Instabilität institutionalisiert.

Zudem verkam die Region zum Armenhaus Russlands. Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen liegt je nach Republik zwischen 50 und 70 Prozent. Der Jugend fehlt jegliche Zukunftsperspektive. Nachdem russische Lehrer und heimische Intelligenz abwanderten, steht auch das Schul- und Bildungssystem vor einem Kollaps. Hinzu kommt die Korruption, die selbst für russische Verhältnisse ein unvorstellbares Ausmaß erreichte. Wer nicht den mächtigen Klans angehört, die in Politik und Wirtschaft mit stiller Duldung Moskaus die Führung an sich rissen, bleibt chancenlos. Viele Jugendliche wenden sich so islamistischen Gruppen zu.

War die Wiederentdeckung des Islam in den Neunzigerjahren noch eine Reaktion auf den sowjetischen Atheismus, erfasste die zweite Welle der Islamisierung in den letzten Jahren alle Lebensbereiche. Die widrigen Lebensumstände schwächten auch die Immunität ehemals skeptischer Bürger gegen den Radikalismus.

Der Untergrund kennt keine Nachwuchssorgen. In den vergangenen fünf Jahren sprossen islamistische Gruppen wie Pilze aus dem Boden. Jugendliche ohne Perspektive zwischen 20 und 25 Jahren füllen die Reihen einer Generation von neuen Terroristen. Im Unterschied zu den Separatisten Tschetscheniens der Neunzigerjahren, die Terror eines eigenen Staates wegen verübten, betreiben die neuen Untergrundkämpfer Terror als Selbstzweck. Es geht um den Dschihad, der Glaubenskrieg.

Der selbsternannte Emir des Nordkaukasus, Doku Umarow, der die Verantwortung für die Attentate in Moskau übernahm, gehörte in den Neunzigern zum inneren Zirkel der tschetschenischen Separatisten. Mit der Ausrufung eines Nordkaukasus-Emirats betreibt er eine Entnationalisierung des Unabhängigkeitskampfes, der sich zurzeit mit einer Maxime begnügt: je schlechter für Russland, desto besser für die islamistische Bewegung. Das schließt einen Dialog von vornherein aus. Moskau steht vor einem Paradox: Der Separatismus konnte im Tschetschenien-Krieg eingedämmt werden, das Abdriften des Kaukasus von Russland jedoch nicht.

Im vergangenen Jahr entband der Kreml den erfolglosen Sjasikow vom Amt des Präsidenten. Mit Junus-bek Jewkurow wurde ein General zum Präsidenten ernannt, der den Dialog mit der Gesellschaft suchte. Bei einem Attentat im Juni 2009 kam er knapp mit dem Leben davon. Weder dem Sicherheitsapparat noch dem radikalen Untergrund ist an einer Veränderung des Status quo gelegen. Putin, einst Bezwinger Tschetscheniens, verliert den Nimbus des erfolgreichen Antiterrorhelden. Um dies zu kaschieren, wurden bei den Ermittlungen des Moskauer Attentats die tschetschenischen Spuren bewusst nicht erwähnt. Der Terror kratzt nicht nur am Image des Premiers, er gefährdet auch dessen kaukasisches Lieblingsprojekt, nämlich die olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi.