Inge soll bleiben

BÜRGERPROTEST Seit 19 Jahren verkauft Inge Bohl jeden Tag Bier, Brot und Zigaretten am S-Bahnhof Nöldnerplatz. Jetzt soll der Spätkauf einer Umbaumaßnahme der Bahn AG weichen. Die Kunden wollen nicht auf Inge Bohl verzichten – und organisieren eine Demo

„Die Einzelhändler müssen sich organisieren, um Druck auf die Bahn auszuüben. Am Bahnhof Frankfurter Allee und in Mahlsdorf haben sie die kleinen Läden doch auch schon dichtgemacht“

EIN MITARBEITER DER S-BAHN, DER LIEBER UNGENANNT BLEIBEN MÖCHTE

VON LAURENCE THIO

Inge Bohl reicht Sternburg über die Theke und kämpft um ihr Lebenswerk. Zwei Demonstranten bringen ein Transparent über dem Laden an: „Wir wollen, dass dieser Laden bleibt“ steht darauf. „Gegen Verdrängung.“ Es ist Mittwochabend, am Montag soll Bohl ihre „Spätverkaufstelle für Imbiss und Reisebedarf“ im S-Bahnhof Nöldnerplatz räumen. Die Kündigung der Deutschen Bahn kam schon im vergangenen Oktober. Doch die 71-Jährige will nicht weichen – es ist ihre erste Demo.

Immer mehr Demonstranten versammeln sich in der S-Bahn-Unterführung. Auf dem Stehtisch, um den herum sonst Bohls Stammkunden stehen, liegen Flyer. Florian Steffens hat die Protestaktion organisiert, er hat Freunde, Nachbarn und die Medien angeschrieben, um Druck auf die Bahn AG auszuüben. „Wir wenden uns gegen die systematische Verdrängung von Einzelhändlern aus S-Bahnhöfen“, sagt Steffens.

Inge Bohl ist eine schmächtige Frau mit grauem Haar und einem grauen Pullover. Als „Lichtenberger Handelstochter“ bezeichnet sie sich selbst. Ihre Eltern hatten seit 1946 einen Obst- und Gemüseladen in der nahe gelegenen Türrschmidtstraße, sie übernahm das Geschäft in den Sechzigerjahren. „Der Handel im Osten war nicht einfach. Ich musste mich immer mit den Händlern gutstellen und aufpassen, dass einem die Waren nicht geklaut wurden.“ Von 1986 bis 1993 betrieb Inge Bohl einen Verkaufsstand auf dem S-Bahnhof Lichtenberg. Aber „die Mieten stiegen von 150 Ostmark auf 3.500 Westmark, da habe ich mir den Laden am Nöldnerplatz genommen“.

Die Bahn will „Baufreiheit“

Der kleine, geflieste Laden liegt in der Tunnelunterführung, gegenüber dem Aufgang zum Bahnsteig. Im Inneren türmen sich die Bierkästen, die Auslage ist mit Süßigkeitentrommeln zugestellt. Links steht ein Regal mit Schnäpsen, rechts eines mit Suppendosen, Schwarzbrot und Chips. Im hinteren Bereich stehen Herdplatten und eine Kaffeemaschine. Feucht und kalt ist es im Laden, einen Kühlschrank für das Bier braucht Inge Bohl nicht. Der Platz im Verkaufsraum reicht gerade für sie. Bohl steht hier jeden Tag – seit fast zwei Jahrzehnten. Alle paar Minuten rattern die Züge über den kleinen Laden hinweg. Dann zittert es im Spätkauf.

Die Deutsche Bahn hat Inge Bohl im Oktober 2009 gekündigt, um einen Aufzug zu bauen. Der S-Bahnhof Nöldnerplatz soll barrierefrei werden. Dafür benötige man Baufreiheit, sagt Bahn-Sprecher Burkhard Ahlert. „Außerdem richten wir einen DB-Store auf dem Bahnsteig ein. Wir haben Frau Bohl angeboten, diesen zu übernehmen. Darauf haben wir jedoch keine Reaktion erhalten.“ Der Shop steht schon auf dem Bahnsteig. Es ist ein grauer Container, die Jalousien sind heruntergelassen. In diesem Geschäft soll das Warenangebot laut Ahlert „aufgewertet“ werden. Die Waren würde sie nicht mehr selbst einkaufen, sie würden ihr geliefert. Inge Bohl schüttelt den Kopf: „Das ist doch eine andere Welt.“ „Zynisch“ findet Florian Steffens den Umgang mit der alten Frau: „Sie ist 71 Jahre alt, war immer ihr eigener Chef und soll jetzt unter den Bedingungen der Bahn schuften.“

Mittlerweile haben sich gut 70 Menschen vor dem Laden versammelt, die Band „The incredible Herrengedeck“ ist aus Neukölln gekommen, um Lieder gegen Gentrifizierung und Verdrängung zu spielen. Viele der Demonstranten sind jung, alternativ gekleidet und wohnen erst seit ein paar Jahren in der Nachbarschaft. Als in Friedrichshain die Mieten stiegen, sind sie in die Altbauten des nahe gelegenen Kaskel-Kiez gezogen. Einen Spätkauf gibt es dort aber nicht. „Inge ist eine feste Größe im Kiez. Sie hat den Laden aufgebaut und sich alles erarbeitet. Das darf die Bahn ihr nicht wegnehmen“, meint Stammkunde Michael. „Es geht um ein individuelles Angebot, wir wollen keine Einheitswaren“, sagt Demonstrant Friedhelm Steffens. Ein türkischer Kunde hätte „früher noch begrüßt, wenn der Laden geschlossen worden wäre. Hier standen oft viele Nazis. Seit einiger Zeit ist das anders.“ Auch ein Mitarbeiter der S-Bahn demonstriert für Inge Bohl, er möchte lieber ungenannt bleiben. „Die Einzelhändler müssen sich organisieren, um Druck auf die Bahn auszuüben“, sagt er. „Am S-Bahnhof Frankfurter Allee und in Mahlsdorf haben sie die kleinen Läden doch auch schon dichtgemacht.“

Vor dem Spätkauf steht jetzt auch Petra Pau von der Linken, Vizepräsidentin des Bundestages. Pau will den kleinen Spätkauf unterstützen: „Zum einen begrüße ich, dass der Bahnhof barrierefrei werden soll. Andererseits bin ich hier aufgewachsen und kenne Frau Bohl. Ich werde mich noch mal an die Bahn wenden und klären, ob man die verschiedenen Interessen nicht zusammenbringen kann.“ Frau Bohl nickt ernst. Sie hat mit Petra Pau in einem Haus gewohnt. Als es um alles ging, hat sie die Politikerin angerufen.

Geld für die Citytoilette

Ein Stammkunde klopft an die Scheibe: „Schön war’s gewesen, Inge!“ Die hat gerade viel zu tun: Die Demonstranten kaufen kistenweise Bier. Mit vielen Kunden wechselt sie gern ein paar Worte, sie kennt die Lieblingsmarken der Stammkunden und leiht ihnen Geld für die Citytoilette. Dass so viele Demonstranten kommen, damit hätte sie nicht gerechnet. Auch Stammkunde Wolfgang Tippelt ist sichtlich mitgenommen. Der 54-jährige Malermeister wohnt in Wartenberg und steht seit fünf Jahren täglich am Spätkauf. Morgens holt er seinen Kaffee, abends trinkt er Bier und Schnaps. „Inge ist wie eine Mutter zu mir. Ich kann mit ihr quasseln wie eine Litfaßsäule, und sie hat genau die Sachen im Angebot, die ich gerne trinke“, sagt Tippelt. Seine Frau und er sammeln spontan Unterschriften. Tippelt läuft mit einem Schulblock den Tunnel auf und ab, hält Passanten und Fahrgäste an und drängt sie zu unterschreiben. Wolfgang Tippelt weiß, wofür er kämpft. Seine Frau sammelt vom Stehtisch aus und spricht Kunden an: „Hier, erst unterschreiben, dann kriegst du auch ein Bier!“ Am Ende des Abends bekommen die beiden über 12 Seiten mit Unterschriften zusammen.

Inge Bohl ist gerührt. Die Demonstranten haben sie bestärkt: Am Montag wird sie in ihrem Laden bleiben. Sie zählt das eingenommene Geld. Viel sei es nicht, sagt sie. Aber die Arbeit mache sie schon lange nicht mehr wegen des Geldes, sondern wegen der Leute.