Beim Balkan hilft nur schwarzer Humor

BLUT UND GRAUSAMKEITEN In der Neuköllner Oper wurde das Musiktheaterfestival „Open Op“ eröffnet

Erst mal singt sie fröhlich Balkan-Vorurteile herunter: Hier wartet das gestohlene Auto auf Sie!

Es ist dunkel, der Vorhang unten. Bevor „A Fist full of Love“ – das Stück, mit dem am Donnerstag das Musiktheater-Festival „Open Op“ der Neuköllner Oper eröffnet wurde – überhaupt beginnt, wird dem Zuschauer von einer Frau mitgeteilt, dass alles bereits zu Ende sei. „Alle sind tot. Gehen Sie nach Hause.“ Aha. „Aber wenn Sie schon mal da sind, dann wiederhole ich das ganze Ding noch mal!“ Maria, so stellt sich die Frau vor, verspricht, dass es ihre „Balkan-Show“ in sich hat – viel Blut und Grausamkeiten. Begleitet von der vierköpfigen Dead-But-Live-Band, heißt es dann „Welcome to my Balkan“, es ertönen Jazz-Tunes.

Maria, gespielt von der besonders in ruhigen Parts versiert singenden Jelena Jovanova, macht passend dazu eine typische Balkan-Frau-schüttelt-die Brüste-Einlage und singt erst mal fröhlich Balkan-Vorurteile herunter: Hier lebt man wie vor hundert Jahren, hier wartet das gestohlene Auto auf Sie. Richtige Balkan-Männer riechen wie Pferde, brauchen Aufmerksamkeit wie Babys und lügen wie gedruckt. Vorurteile, die sich im Verlauf des Stücks übertrieben karikiert wiederfinden werden.

Der Balkan, „das ist immer der andere“, schreibt der Philosoph Slavoj Zizek in „Liebe deinen Nächsten? Nein, Danke!“ Um den „Anderen“ – oder genauer gesagt den „Nächsten“ – dreht sich auch das Stück von Sandy Lopicic, das auf dem Text „Leere Stadt“ von Dejan Dukovski beruht: Die Logik der Selbstzerstörung wird hier anhand des alten Motivs zweier rivalisierender Brüder gezeichnet. Hier heißen sie Gero und Djore: zwei Brüder. Zwei Soldaten. Sie sind Angehörige zweier feindlicher Armeen, die sich in in einer evakuierten Stadt kurz vor der Entscheidungsschlacht gegenüberstehen. Es gibt kein Vor und Zurück, kein Morgen mehr, es bleiben nur noch ein paar Stunden.

Die Brüder erzählen sich alles, Geständnisse kommen zu Tage. Der jüngere erzählt dem älteren, dass er ihm seine Verlobte Maria ausgespannt hat, kurz nachdem dieser nach Amerika ausgewandert sei; er bringt den älteren damit zur Weißglut. Doch immer wieder verändert der jüngere Bruder seine Versionen der Episode mit Maria. Zunehmend sind Wahrheit und Lüge nicht zu unterscheiden. Welche Geschichte ist eigentlich wahr? Gibt es nur noch Lügen?

Das sind die Fragen, mit denen sich Lopicic auseinander setzt. Das Duo Lopicic/Dukovski zeigt die destruktiven Energien, die in jedem Menschen schlummern und zuletzt auf dem Balkan um sich geschlagen haben. Lügen und Propaganda haben dieses wahnsinnige Treiben angeheizt. Der starke und rabiate Text Dukovskis wird durch Lopicics Rock-Musik-Arrangements ergänzt. Hier und da hakt es, einige Übergänge zwischen Textpassage und Musikeinlage hätten nicht so konventionell arrangiert sein müssen. Das Kitschige und Klischeehafte indes wird sehr gut musikalisch transportiert und ist streckenweise wunderschön: zum Beispiel, wenn die zarte Stimme der Maria „White Wedding“ von Billy Idol ansingt. Djore und Geros Wichtigtuerei und Knabenhaftigkeit werden überzeugend trashig gespielt von Gorast Cvetkovski und Senko Velinov, aber auch sie können nur in leisen Parts gesanglich etwas bieten.

Das Duo Lopicic/Dukovski übertreibt es mit Klischees. Aber vielleicht müssen sie das auch, um den therapeutisch wirkenden schwarzen Humor herauszubilden, den es benötigt, um ihr Trauma zu überwinden. Und um gleichzeitig neue Blicke auf den Balkan zu ermöglichen.

Mit „A Fist Full of Love“ beginnt das Open Op Festival, zu dem die Neuköllner Oper bis zum 18. April einlädt. 13 freie Produktionen aus Mazedonien, Estland, Belgien, Holland, Tschechien und Deutschland präsentiert das Haus an der Karl-Marx-Straße, darunter vier für das Festival entstandene Uraufführungen.

ALEKSANDAR ZIVANOVIC

■ Infos: www.neukoellneroper.de