: „Bauern sind modern“
Der Dokumentarfilm „Ländliche Ansichten: Der Alltag“ ist der zweite Teil einer Trilogie, in der sich Raymond Depardon dem bäuerlichen Leben widmet. Warum, erläutert er im Gespräch
INTERVIEW KIRA TASZMAN
taz: Herr Depardon, wie ist die Idee, Bauern zu filmen, entstanden? Spielte Ihre ländliche Herkunft da eine Rolle?
Raymond Depardon: Sie entstand im Anschluss an eine Fotoreportage über das ländliche Frankreich für Libération, Mitte der 90er-Jahre. Einerseits war mir das zu persönlich, zu schmerzlich. Ich erinnerte mich an den Bauernhof und das Land meiner Eltern, das heute von einer Autobahn durchschnitten wird. Aber beim Besuch dieser vielen verschiedenen Ortschaften bemerkte ich Parallelen. Und so hatte ich Lust, mich wieder mit einem Thema zu beschäftigen, das ich verdrängt hatte.
„Ländliche Ansichten“ ist ein Langzeitprojekt, dessen zweiter Teil „Der Alltag“ ist.
Ursprünglich wollte ich einen einzigen Film über zehn Jahre drehen, aber eine Fernsehredakteurin meinte, dass das niemand produzieren würde, und schlug drei Filme für diesen Zeitraum von 1998 bis 2008 vor. Mich hat sehr geärgert, dass behauptet wurde, dass diese ländliche Welt nicht mehr existiere. Also bin ich durch viele mir bekannte und unbekannte Orte gereist. Dabei habe ich festgestellt, dass man einige quasi mit dem Höhenmesser erschließen musste. Ab einer gewissen Höhe gab es Bauernhöfe, die ein wenig abseits lagen: für Wintersport nicht hoch genug und für das Betreiben einer rentablen Landwirtschaft zu abschüssig. Und so habe ich 1997/98 diese Orte mit den dort lebenden Bauern entdeckt. Einige waren schwer zu erreichen.
Die Orte oder die Bauern?
Beide. Den Bauern musste ich jedes Mal vorgestellt werden, denn man kann nicht ohne weiteres ihren Hof betreten. Außerdem wollte ich in verschiedenen Regionen drehen. Natürlich ist das Zentralmassiv wichtig, denn dort wurzelt die Quintessenz von Bäuerlichkeit und französischer Kultur. Das Milieu der Kommunikation, der Kunst, in dem ich lebe, ist a priori das Gegenteil der ländlichen Welt. Aber viele Dinge, die die französische Kultur und den typisch französischen Charakter ausmachen, bleiben.
Welche?
Dass wir alle ein bisschen pessimistisch sind, vorsichtig und gleichzeitig leidenschaftlich, wie diese Bauern. Also sagte ich mir: Das sind sehr moderne Menschen, und es ist wichtig, das noch festzuhalten: ihre Gestik, ihre Art zu sprechen. Auch wenn sie schlecht gekleidet sind, auch wenn ihre Bauernhöfe nichts mit unserem heutigen Leben in der Stadt zu tun haben. Die Vielfalt der französischen Landschaft bietet solche Nischen.
Dennoch ist Ihr Blick frei von Nostalgie.
Darum habe ich mich bemüht. Das andere Extrem wäre gewesen, dass ich mich über die Bauern lustig oder „einen auf Elend“ gemacht hätte, denn sie leben ja sehr zurückgezogen. Aber ich finde, dass ihre Sprache voller Kraft und Intelligenz ist. Viele Monate lang habe ich sie ohne die Kamera besucht und versucht, sie zum Reden zu bewegen, und dabei sprachen nicht sie, sondern ich.
Einige wirken in der Tat nicht sehr gesprächig.
Also musste ich mich selbst ihnen vorstellen. Ob ich verheiratet bin, was ich arbeite usw. Nach vielen Besuchen haben sie mir gesagt: „Aber Monsieur Depardon, Sie sind ja richtig bekannt! Warum benutzen Sie diese alte Filmausrüstung?“ Sie haben sich fast ein wenig mokiert.
Misstrauten Sie Ihnen als Künstler?
Ach, sie sind immer etwas misstrauisch. Um nicht zum Eindringling zu werden und um Voyeurismus zu vermeiden, musste ich mich beim Drehen beeilen. Die Bauern machten richtige Termine mit mir aus, wie ein Firmenboss. Die Tonfrau Claudine Nougaret und ich tranken manchmal einen Kaffee oder einen kleinen Rotwein mit ihnen. Aber man sollte keine falsche Freundschaft mit ihnen anstreben. Diese Leute haben eine gewisse Zurückhaltung. Sie werden einen nicht rausschmeißen, aber man darf nicht zu lange bleiben. Es wäre zum Beispiel undenkbar, ihr Schlafzimmer zu filmen.
Was bedeutet es für Sie als Filmemacher, nach Ihren Filmen in geschlossenen Räumen auf dem Lande zu filmen?
Wir drehten nicht extra bei schönem Wetter. Die Natur hat ohnehin eine starke Persönlichkeit, man muss sie nicht verherrlichen. Die Figuren sind in ihr verankert. Etwa der Schäfer Marcel Privat, der bei Wind und Wetter draußen ist. Er kleidet sich immer in schlichtem Blau, beschwert sich nie, isst einfache Dinge wie Brot, Suppe, Brühe. Sein Hund ist ihm wichtig. Er guckt wenig fern, liest kaum Zeitung. Seine Welt ähnelt der Landschaft, die man sieht. Asketisch.
Manchmal filmen Sie Dinge, die nicht geplant waren: den Kameraausfall oder zufällige Begegnungen. In welchem Verhältnis stehen Spontanes und Konstruiertes bei Ihnen?
Ich glaube sehr an das Bild. Ich vertraue ihm und glaube, dass es immer etwas hervorbringt. Das habe ich durch Dreharbeiten in schwierigen, geschlossenen Orten gelernt: Polizeirevieren, psychiatrischen Notdiensten. Man muss an das Kino glauben, verfügbar sein, seinen Kopf frei machen, anderen glauben, ihnen zuhören. Diese alte Dame, die Bäuerin Marcelle Brest etwa, tritt – natürlich für die Kamera – aus ihrem Haus heraus und erzählt, dass sie dort seit Jahrzehnten wohnt, aber woanders geboren wurde. Es war ihr wichtig, eine Spur zu hinterlassen.
Wollten Sie Frau Brest nach ihrem Sturz nicht im Altersheim filmen?
Filmen ist schwierig, Vergewaltigung und Zurückhaltung zugleich. Man kann jemandem Gewalt antun. Ich habe mich nicht getraut, sie im Heim zu filmen, weil ich weiß, dass sie sehr auf ihr Äußeres bedacht ist. Es war besser, sie mit ihrem schönen Kittel, den sie extra gebügelt hatte, im Gedächtnis zu behalten.
Lebt der ledige Bauer jetzt mit der Frau zusammen, die er per Kontaktanzeige gefunden hatte?
Ja. Ich hoffe, dass wir das Kapitel fortführen können.
Dann hegen Sie immer noch Ihre im Film geäußerte Hoffnung, eine Hochzeit filmen zu können?
Natürlich!
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