„Abstufen abschaffen“

INTERVIEW CHRISTIAN FÜLLER

taz: Heute trifft sich in Wiesbaden die Initiative „Neue Schulen braucht das Land“. Sie fahren hin, Frau Kegler. Warum?

Ulrike Kegler: Weil wir endlich damit beginnen sollten, die Potenziale unserer Kinder und Jugendlichen besser zu entwickeln. Wir müssen vieles anders machen. Denn heute regiert noch vielfach Verantwortungslosigkeit in Schulen.

Bitte, Frau Kegler, muss das sein?

Was meinen Sie?

Dass Sie und viele Reformpädagogen oft so dramatisieren. Sie sprechen von Verantwortungslosigkeit! Dabei hat jeder Lehrer, egal an welcher Schulform, den Anspruch, die Potenziale junger Menschen zu entwickeln.

Darf ich Ihnen mit einer Geschichte antworten?

Bitte.

An einem Berliner Gymnasium ruft ein Lehrer seit einiger Zeit einen Schüler auf. Und weil der Schüler sich nicht meldet, trägt der Lehrer Fehlzeiten ein, plant Strafen, lässt das ganze Programm der Sanktionierung anlaufen.

Was wundert Sie so daran?

Nichts – außer der Umstand, dass dieser Schüler gar nicht mehr da ist. Er hat die Schule gewechselt. Nur hat es der Lehrer nicht gemerkt! Auch das kann Schule im 21. Jahrhundert sein.

Und was bedeutet das nun?

Dass man heutzutage nicht mehr die Methoden der alten Schule anwenden sollte. Alles in unserer Gesellschaft ändert sich mit rasender Geschwindigkeit, nur der achtlose Umgang mit Schülern ist geblieben. Schule ist in ihrer Grundstruktur noch wie vor hundert Jahren.

Sie meinen das altbekannte Lernformat: Der Lehrer steht vorne, den Rohrstock hat er zwar abgelegt, aber er weiß immer noch ganz genau, was gelernt werden muss …

… und immer nach 45 Minuten geht die Klingel. Und mittags geht man nach Hause. Sechsmal 45 Minuten Unterricht in verschiedenen Fächern. Das ist doch fragwürdig. Fast wie Zappen. Sie können nichts zu Ende bringen. Kein Wunder, dass weder Schüler noch Lehrer Lust darauf haben. Ich denke, dass damit Schluss sein muss. Schule kann heute nicht mehr in erster Linie ein Ort der Wissensvermittlung sein, sondern sollte ein Ort des Austauschs von Wissen sein.

Den Austausch von Wissen zwischen den Menschen gibt es auch auf dem Marktplatz. Können Sie die Schule des 21. Jahrhunderts nicht konkreter beschreiben!

Gerne. Das Wichtigste ist: Es muss gemischte Gruppen geben. Solange Kinder und Jugendliche in die Schule gehen, bis 16 Jahre, gehören sie zusammen.

Warum ist das so wichtig?

Weil Kinder frei von der Angst aufwachsen müssen, dass man sie wegen angeblich fehlender Begabung aussortieren kann. Alle können voneinander lernen. Man kann sich sehr viel abgucken von Leistungsstarken, aber auch von denen, die Schwächen haben. Eines der tollsten Beispiele dafür ist eines unserer Kinder mit Downsyndrom, wir haben an der Montessori-Gesamtschule in Potsdam ja auch Schüler mit Handikap. Bei einem Wettbewerb zur Neugestaltung unseres Schulhofes griffen Landschaftsarchitekten sofort nach einem Entwurf, der von einem Down-Kind stammte. Sie wussten nicht, von wem er kam. Dieser Entwurf diente als Maßstab für unseren neuen Schulhof.

Aber da müsste sich der Unterricht radikal ändern.

Ja, ohne neue Lernformen geht es bei anderer Schülermischung nicht. Schüler sollten sich Wissen auf viele Arten erschließen können, nicht nur auf eine. Weder kann das freie Lernen, bei dem jeder seine Themen verfolgt, alle Zeit einnehmen. Noch jene Form, die heute vorherrscht: dass der Lehrer bestimmt, wo es langgeht.

Immerhin erteilen sie die Noten.

Auch darüber muss man nachdenken. Es sollten neue Formen des Beurteilens der Schüler etabliert werden. Die Urteile, so muss man Noten ja wohl nennen, sind zu simpel für die Vielfalt von Potenzialen, die wir haben. Wir müssen genauer hinschauen.

Sie kennen das unausrottbare Vorurteil dagegen? Jeder kann machen …

… was er will, ich weiß. Das ist das große Missverständnis, gegen das wir seit zwölf Jahren anarbeiten. Wenn man Individualität und Differenzierung in der Schule entwickeln will, dann wird einem sofort nachgesagt: Da geht es ja gar nicht mehr um Leistung.

Was ist Ihr Argument dagegen? Sie ringen doch täglich mit diesem Vorwurf.

Es ist genau umgekehrt. Wenn man sich selbst gegenüber verantwortlich ist, dann geht es um viel höhere Leistungsanforderungen, als wenn alle das Gleiche machen. Der Gleichschritt, der jetzt herrscht, bremst viele in der Klasse, statt sie zu fördern.

Die Eltern wollen dennoch wissen: Welche Lernform dominiert in der neuen Schule?

Lernen sollte nicht mehr belehrend sein, sondern sich selbst entwickelnd. Wir wissen aus der Forschung, dass das Belehrende nicht wirksam genug ist. Man behält von dem, was einem andere sagen, nur wenig. Von allem, was man selber tut, behält man sehr viel mehr. Das bedeutet viel Freiarbeit und eher kurze Einführungen durch die Lehrer statt Frontalunterricht.

Kommt es bei Ihnen an der Schule vor, dass die Eltern Noten verlangen?

Das passiert doch! Etwa 40 Prozent der Schüler verlassen uns nach der 6. Klasse, weil es für die Eltern genug mit dem Leben ohne Noten ist. Dann sagen auch viele Kinder, wir wollen jetzt Zensuren. Am Anfang hat uns das getroffen.

Und jetzt?

Wir wollen niemanden zwingen. Es bleiben genug hier, die wirklich wollen, dass ihre Kinder nach neuen Methoden lernen.

Aber es ist ein Verlust für die Klasse, wenn eine Schülerpersönlichkeit geht. Und es gehen doch die Guten, oder?

Natürlich ist es ein Verlust. Deswegen werben wir um jedes Kind, wir machen Informationsveranstaltungen, Gesprächskreise, wir lassen die Kinder hier in der Schule in der Sekundarstufe hospitieren. Aber wenn sie nicht mehr wollen, dann wollen sie nicht mehr. Zudem: Es verlassen uns nicht mehr nur die Guten, das war zu Anfang so. Wir haben es geschafft, in der 7. bis 10. Klasse eine wirklich schöne Mischung hinzubekommen.

Welche Erfahrung haben Sie mit den Schülern, die neu hinzukommen?

Überwiegend positive. Wir finden es gut, dass die Gruppe noch mal durch Quereinsteiger aufgebrochen wird. So kommen ganz neue Impulse. Nur muss man wissen, Sekundarstufe ist harte Arbeit. Die vier Jahre ab der siebten Klasse sind nicht irgendwelche Jahre, sondern sehr schwierige. Es ist die schlechteste Phase, um in der Schule zu sitzen und zu lernen.

Wäre es nicht nötig, das Schulsystem von oben radikal umzubauen?

Nein, unten passiert mehr. Es gibt ganz wunderbare Schulen in Deutschland, und es werden immer mehr. Wir finden hoch engagierte Lehrer und viele gute Konzepte. Wenn Sie heute einen Kongress für neuen Schulen ansetzen, kommen die Leute zuhauf. Auch wir haben als Reformschule jedes Jahr ungefähr 700 Gäste – aus ganz Deutschland.

Wenn Sie Bildungsministerin wären …

… danke, ich habe als Schulleiterin genug zu tun.

Nur für eine Sekunde. Was würden Sie veranlassen, wenn Sie Bildungsministerin wären?

Ich würde das Abstufen abschaffen. Schulen müssen die Schüler, die sie haben, auch behalten. Sie dürfen sie nicht mehr nach unten abschieben. Wenn sie einmal auf dem Gymnasium oder auf der Hauptschule sind, müssen sie da bleiben können.

Was wäre dann gewonnen?

Die Verantwortungslosigkeit wäre aufgehoben. Dass man einen Schüler demütigt, indem man sagt: Du bist hier nicht richtig, und deswegen wirst du jetzt an eine andere Schule gehen.

Ich wusste es, Sie wollen keine Reform, sondern Revolution.

Meinen Sie? Das dreigliedrige Schulsystem ist selbstverständlich für mich nicht akzeptabel. Aber ich sehe nicht die Möglichkeit, dass wir die gegliederte Schule einfach abschaffen. Finnland hat das damals geschafft. Aber in Deutschland sind dafür einfach viel zu viele Menschen, zu viele Interessen, zu viel eingefahrene Tradition.

Ohne Noten, ohne Sitzenbleiben, ohne Abstufen, also ohne den Satz „Du passt nicht hier her!“, ist die dreigliedrige Schule aber gar nicht denkbar.

Genau. Der finnische Botschafter nannte das jüngst, was die Finnen schon 1968 beschlossen haben, so: Wir schaffen die Unterklasse ab, wir schaffen die Hauptschule ab. Die nennen das übrigens nicht Hauptschule, sondern Sackgasse. Sie haben den Weg in die Sackgasse damals versperrt und die Aussortierung der Schüler ganz weit nach oben verlegt, in die 9. Klasse. Damit haben sie ihr Schulsystem von Grund auf verändert.

Gut, aber hier würde es im Gymnasium eine Abstoßungsreaktion geben. Wie soll ein Gymnasiallehrer das Abstufen denn bleiben lassen? Es ist doch sein Unterrichtselixier, jene aussortieren zu können, die ihn am Gleichschritt mit der angeblich homogenen Lerngruppe hindern.

Es geht um nicht weniger, als das Denken über Schüler zu ändern. Die jungen Menschen, die wir haben, sind genau die richtigen. Nicht irgendwelche anderen, sondern die, die da sind. Jedes einzelne Kind, jeder einzelne junge Mensch. Mit denen müssen wir uns auseinander setzen und nicht warten bis die richtigen kommen. An jeder Schule.

Und mit Initiativen wie der in Wiesbaden schaffen Sie das?

Weiß ich nicht. Da müssten Sie nächste Woche noch mal kommen und mich fragen. Aber ich verspreche Ihnen, die Schulen haben längst begonnen, sich von innen heraus zu verändern. Und es ist richtig, dass man das nicht von oben aufzwingt, dass man nicht auf die Kultusminister wartet und nicht über die Föderalismusreform jammert, sondern mit guten Beispielen Schulen motiviert.