Ein liberaler Heiligenkalender

Ralf Dahrendorfs neues Buch über „Intellektuelle in Zeiten der Prüfung“ durchzieht eine feierliche, religiöse Grundmelodie, wie man sie sonst nur von Freimaurerlogen kennt

VON WARNFRIED DETTLING

Gäbe es so etwas wie den Oscar für ein Lebenswerk nicht nur beim Film, sondern auch in der Soziologie, Ralf Dahrendorf wäre seit Jahrzehnten ein heißer Kandidat für diese Auszeichnung. Schon vor mehr als vierzig Jahren hat er durch wichtige Werke die soziologische Theorie und die Realanalyse von Gesellschaft und Demokratie in Deutschland vorangetrieben. Als Wissenschaftler wie als engagierter Zeitgenosse hat er die junge Bundesrepublik mit sich selbst, mit den problematischen deutschen Traditionsbeständen, aber auch mit den Merkmalen einer liberalen Demokratie vertraut gemacht.

Dass Konflikte, Vielfalt und Minderheiten notwendig zu einer freien Gesellschaft gehören, war damals keineswegs selbstverständlich. Zu den Bildern jener Zeit gehört sein öffentliches Streitgespräch mit Rudi Dutschke während der 1968er-Studentenbewegung. In Erinnerung bleiben seine Ausflüge in die Politik – als Abgeordneter der FDP, als Staatssekretär und als Europakommissar. Von 1974 bis 1997 leitete er erst die London School of Economics und später das St. Antony’s College der Universität Oxford. Inzwischen ist er Mitglied des britischen Oberhauses und, dies vor allem, das Prachtexemplar jener öffentlichen Intellektuellen, um die es in seinem neuen Buch geht.

Dahrendorf schreibt über Karl Popper, den philosophischen Begründer des Kritischen Rationalismus, über den politischen Soziologen Raymond Aron und über den „Ideengeschichtler in praktischer Absicht“ Isaiah Berlin. Dabei spürt er der Frage nach, wie und warum sie den „Versuchungen der Unfreiheit“ widerstanden haben und nicht dem Faschismus oder dem Kommunismus erlegen sind wie so viele andere.

Es ist ein doppeltes Motiv, das ihn zu diesem Buch inspiriert hat. Da ist einmal das soziologisch-zeitgeschichtliche Erkenntnisinteresse des Autors: Bisher habe man den Blick zu einseitig auf die Täter und die Opfer gerichtet und zu wenig auf die „Unversuchbaren“ (!), die von Natur aus immun gewesen seien gegen die Verführungen dieser politischen Heilslehren. Da ist zum anderen ein sehr persönliches Motiv: Dahrendorf hat die von ihm emphatisch gefeierten Helden der Freiheit persönlich gut gekannt, er fühlt sich ihnen verbunden, wie man sich einem „väterlichen Freund“ verbunden fühlt.

In Erinnerung und Verehrung ein persönliches Buch zu schreiben ist ein ehrenwertes Motiv; so wie es auch eine gute Idee ist, die Aufmerksamkeit stärker jenen zuzuwenden, die nicht mitgelaufen sind, sondern widerstanden haben. Jedes der beiden Motive hätte ausgereicht, ein anregendes Buch zu schreiben. In der Kombination aber haben sie den Autor verführt, etwas zu produzieren, was man so von ihm nicht erwartet hätte: einen liberalen Heiligenkalender. Dabei stört weniger, dass die „Unversuchbaren“ durchweg im Olymp der Aristokratie des Geistes angesiedelt sind, in der virtuellen Akademie der „Erasmier“ (so benannt nach dem Humanisten Erasmus von Rotterdam).

Erstaunlicher ist schon, dass ein Soziologe von Rang die soziologische Kernfrage seines Themas fast gänzlich ausblendet: Welche Konfigurationen zwischen Person, kultureller Tradition und sozialer Umwelt haben es mehr oder weniger wahrscheinlich gemacht, dass Menschen in jenen „Zeiten der Prüfung“ sich so oder anders verhalten haben?

Das Buch bewegt sich frei im Reich der Ideen. Es ist der „Glaube an die Freiheit“, der die Erasmus-Menschen verbindet. Und so kommt es, dass sich eine feierliche, andächtige, religiöse Grundmelodie durch das Buch zieht, wie man sie von der katholischen Heiligenverehrung, von Freimaurerlogen oder anderen kultischen Vereinigungen kennt („Brüder, reicht die Hand zum Bunde …“). Das Buch atmet einen Geist, den man sonst bei dem Autor nicht findet. Und genau darin liegt seine Bedeutung: Es ist ein Dokument unserer Zeit, ein Symptom des neuen Zeitgeistes.

Popper, Dahrendorf und andere waren in der politischen Philosophie ja auch eine Abkehr von Hegel, Heidegger und dem dunklen deutschen Wald, dessen tiefgründiges Raunen und Rauschen nicht nur die Hintergrundmelodie einer bestimmten Philosophie, sondern auch einer kulturell arroganten Ablehnung der Demokratie und der offenen Gesellschaft abgegeben hat. Im Positivismusstreit Anfang der 1960er-Jahre hat Dahrendorf mit, aber auch gegen Adorno und andere die geistige Auseinandersetzung der Zeit geprägt. Es ging darum, eine kritische Öffentlichkeit zu schaffen, in der die Gesellschaft über sich selbst, ihre normativen Ansprüche wie ihre reale Verfasstheit, noch reflektieren konnte.

Und heute? Die einen haben sich seit 1989 aus den bekannten Gründen aus der öffentlichen Debatte erst einmal verabschiedet. Dieses Buch lenkt die Aufmerksamkeit auf ein anderes Kapitel: Der Kritische Rationalismus und überhaupt die liberale Theorie und Politik leisten schon lange keinen Beitrag mehr zu den großen Fragen und Widersprüchen der Zeit. Sie surfen nach wie vor auf der Metaebene. Das ist eine intellektuelle Übung, die im 20. Jahrhundert, zumal seiner ersten Hälfte, plausibel, ja notwendig war, heute aber merkwürdig artifiziell wirkt.

Wenn Soziologen vom Rang Dahrendorfs in nostalgischem Rückblick über die wirklichen Probleme unserer Zeit hinweggleiten, machen sie den Weg frei für die Großfeuilletonisten aus allen Richtungen: Der Verrat der Intellektuellen besteht heute nicht länger darin, dass sie den „Versuchungen der Unfreiheit“ erliegen, sondern darin, dass im Medienbetrieb jeder aufklärerische Impuls verdampft und die Entpolitisierung schon gar nicht mehr auffällt. Dahrendorf hat einst einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, das Land aus einem konservativen Biedermeier herauszuführen. Es könnte sein, dass diese Aufgabe wieder aktuell wird.

Ralf Dahrendorf: „Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung“. Verlag C. H. Beck, München 2006, 240 Seiten, 19,90 Euro