Die in der Dunkelheit leben

Wilhelmshavener Meeresforscher suchen in der Tiefsee nach Leben – als Teil einer weltumspannenden Forschungsinitiative. Die Fischzählung wird noch Jahrzehnte andauern – doch schon jetzt ist klar: Dort unten lebt mehr, als man gemeinhin denkt

von Jeanette Simon

Sie untersuchen ein quasi unbekanntes Territorium. Ein noch so gut wie unentdeckter Lebensraum, ein Meer ungeahnter Artenvielfalt – es ist zehn Jahre lang ihr Forschungsgebiet. Und die Kreaturen, die sie aus dem Wasser holen, sollen ihnen das Geheimnis vom Leben in der Tiefsee erzählen.

20 Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für Marine Biodiversitätsforschung (DZMB) sind Teil dieses weltumspannenden Projektes. Und mit Superlativen wird hier nicht gespart: Es sei ein Projekt „von gigantischem Ausmaß“, sagt die Sprecherin des Instituts, Brigitte Hilbig, kühn. CeDaMar (Census of Diversity of Abyssal Marine Life) heißt das Forschungsnetzwerk, in dessen Auftrag hunderte Forscher auf der ganzen Welt die Tiefenregionen der fünf Weltmeere untersuchen.

Keiner von ihnen wisse, was sich in 5.000 Metern Tiefe abspielt, sagt der Wilhelmshavener Forscher Kai Horst George. „Wissenschaftlich betrachtet ist uns die Tiefsee ferner als der Mond und der Mars.“ Obwohl die Meere über 60 Prozent der Erde bedecken, herrscht weithin Unkenntnis über das Leben in der Tiefsee. Schließlich ist sie für den Menschen extrem lebensfeindlich: In tausenden Metern Tiefe ist es eiskalt und stockfinster. Kein Sonnenstrahl dringt dorthin vor. Würde ein Mensch so tief tauchen, setzte er seinen Körper einem tödlichen Druck aus. Pro zehn getauchte Meter erhöht sich dieser um ein Kilo je Quadratzentimeter. In 10.000 Metern Tiefe würde also eine ganze Tonne auf nur einem einzigen Quadratzentimeter Haut lasten. Keiner der CeDaMar-ForscherInnen wird deshalb einen Fuß auf den zu untersuchenden Meeresboden setzen. Trotzdem wollen sie möglichst genau wissen, was sich auf und in ihm abspielt. Und CeDaMar soll jetzt den entscheidenden Beitrag leisten – eine Art „Bestandsaufnahme“, wie Brigitte Hilbig sagt. Alles, wirklich alles, was die ForscherInnen im Meer entdecken wird akribisch gesammelt und ausgewertet. Vorrangiges Ziel von CeDaMar ist es, eine Datenbank mit Wissen zu füllen, so das spätere Forschergenerationen sie nutzen können. „CeDaMar kann trotz des enormen Aufwands nur eine Initialzündung für die Tiefseeforschung sein“, sagt Hilbig.

60.000 Euro verschlingt eine Ausfahrt auf dem deutschen Forschungsschiff Polarstern – pro Tag. Bezahlt wird CeDaMar hauptsächlich aus Steuermitteln, aber auch von privaten Stiftungen.

Je mehr technische Möglichkeiten der Mensch hat, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass er irgendwann auch in die Tiefenregionen der Ozeane vordringt und sie als eine Ressourcenquelle entdeckt. Denkbar sei jetzt bereits, dort gefundene Mineralien nutzbar zu machen, sich vielleicht sogar von in der Tiefe lebenden Tieren zu ernähren. Welche Gefahren das für das Ökosystem und den Eindringling Mensch birgt, gilt es erst noch zu erschließen. Bisher wisse man lediglich, dass Umwelteinflüsse, insbesondere das Einwirken des Menschen, auch das Leben unter Wasser verändere. Was wiederum Rückwirkungen auf die Welt oberhalb des Meeresspiegels hat. Bevor der Mensch in dieses Ökosystem eingreift, müsse man genau herausfinden, wie es funktioniert. Zum einen, um es vor gravierenden Schäden zu bewahren. Zum anderen, weil Veränderungen in diesem Ökosystem für die Menschen ungeahnte Folgen haben könnten. Bei anderen Ökosystemen wie den Korallenriffen, sind die ForscherInnen zu spät gekommen. Deren Zerstörung nahm vielen Fischen, Krebsen und Muscheln den Lebensraum und entzog den am Meer lebenden Fischerfamilien die Nahrungsgrundlage. Gleiches soll mit dem System Tiefsee nicht passieren, sagen die CeDaMar-Leute.

Doch die Arbeit der ForscherInnen wird durch den Druck ebenso erschwert wie durch die Dunkelheit. „Unsere Geräte werfen wir fast vollkommen blind ins Wasser“, sagt George. „Wir stochern wortwörtlich im Dunkeln.“ In 5.000 Metern Tiefe stoßen die Forscher Probenrohre in das Sediment, um an die darin wohnenden Kleinstlebewesen zu kommen. Größere Tiere wie zum Beispiel Seegurken oder Seeanemonen können mit so genannten Schlitten gefangen werden. Die haben eine vier Meter breite Öffnung und werden über den Meeresboden geschleppt. Doch jeder Fang ist eine Wundertüte, denn keiner der Forscher weiß wirklich, wonach er sucht. Schätzungen gehen davon aus, dass sich 500.000 bis zehn Millionen Spezies in den Tiefen der Meere verstecken. Allein diese Zahlen zeigen, wie wenig die CeDaMar-Leute tatsächlich über ihr Forschungsgebiet wissen. Sie durchforsten die Hälfte der Erde – ohne ein Phantombild.

Was den WissenschaftlerInnen schließlich ins Netz geht, können sie erst nach langem Warten sehen. Bis zu 28 Stunden kann es dauern, einen einzigen Schlitten abzulassen, zu schleppen und wieder hoch zu holen. Selbst wenn die Aktion ein Erfolg war, ist das, was da in den Maschen hängt kein schöner Anblick. Denn „Tiere, die dort unten leben, sind an die Licht- und besonders an die Druckverhältnisse gewöhnt“ sagt Kai Horst George. Die Geräte werden mit einer Geschwindigkeit von 1,5 Meter pro Sekunde an die Meeresoberfläche gezogen. „Außer kleineren Geißeltierchen ist deswegen noch kein Tier lebend bei uns angekommen.“ Die Körper an sich seien aber gut genug erhalten, um sie zu untersuchen.

In den vergangenen Jahren haben die Forscher, unter ihnen auch die Wilhelmshavener, soviel aus dem Meer gefischt, dass jetzt bereits klar ist, dass die Auswertung der Ergebnisse weit über das Jahr 2010 hinausgehen wird. Kai Horst George hat beispielsweise bei einer der ersten Proben vor Angola allein 500 ihm unbekannte Krebsarten aus dem Sediment gepult. Die Vielfalt des Lebens dort unten, sie ist erstaunlich hoch. Ob die Tiere allerdings auch alle bestimmt werden können, ist ungewiss.

Unzählige Kleinstlebewesen wurden gefunden, einigen wenigen haben die ForscherInnen auch schon so wohl klingende Namen wie „Haploniscus spinifer“ verpasst. Alles weitere wird sich wahrscheinlich erst in den kommenden Jahrzehnten zeigen. Das allerdings eines dieser Tiere jemals auf unseren Tellern landet, darf dabei getrost bezweifelt werden.