Lebensstil kann Allergien vermeiden

Waldorfschüler leiden seltener an Allergien als ihre Altersgenossen. Schwedische Wissenschaftler führen dies auf das Meiden von Antibiotika und Fieber senkenden Medikamenten zurück. Das Durchleben einer fieberhaften Infektion schult das Immunsystem, sagen anthroposophisch orientierte Ärzte

VON MARTINA JANNING

„Jedes zehnte Baby leidet heute an Neurodermitis, in jeder Schulklasse sitzen zwei asthmakranke Kinder, und jeder vierte Teenager hat Heuschnupfen“, berichtet Ulrich Wahn, Allergieexperte am Berliner Universitätsklinikum Charité. Die so genannten atopischen Erkrankungen Neurodermitis, Heuschnupfen und Asthma sind die häufigsten Allergien in Deutschland. Tendenz steigend, wie bei anderen Allergien auch. Wahn und andere Mediziner beschäftigt daher die Frage, wie sich allergische Erkrankungen vermeiden lassen.

Stockholmer Wissenschaftler untersuchten nun Kinder an Waldorfschulen in Schweden, Österreich, den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland. Sie verglichen die Ergebnisse mit denen von Kinder konventioneller Schulen aus der gleichen Region. Sie befragten die Eltern von rund 6.600 Schülern und entnahmen 28 Prozent der Kinder eine Blutprobe, um die Konzentration von allergischen Antikörpern zu bestimmen. Es bestätigte sich, was die Forscher zuvor beobachtet hatten: Waldorfschüler litten seltener an Allergien als ihre Altersgenossen. Mehr Antikörper im Blut fanden die Forscher aber nicht.

Helen Flöistrup und ihr Team vom Karolinska-Institut vermuteten, dass Waldorfschüler durch ihren „anthroposophischen Lebensstil“ besser gegen Allergien geschützt sind. Tatsächlich stellte sie fest, dass in anthroposophischen Haushalten weniger geraucht wird, vor allem während einer Schwangerschaft. Rauchen ist aus Expertensicht unbestritten einer der größten Risikofaktoren für das Entwickeln einer Allergie. Andererseits litten die anthroposophischen Eltern etwas häufiger an allergischen Erkrankungen. Dabei gilt Vererbung als ein Erklärungsschlüssel. „Die wichtigste Kraft sind die Gene“, sagt Wahn. „50 bis 70 Prozent der Krankheitsmanifestationen sind vorbestimmt durch das, was man in die Wiege gelegt bekommt. Doch die genetische Komponente erklärt nicht, warum Allergien zugenommen haben. So schnell ändern Gene sich nicht.“

Zum „anthroposophischen Lebensstil“ zählten die Schweden auch den zurückhaltenden Einsatz von Antibiotika und Fieber senkenden Mittel, so genannten Antipyretika. Die Forscher stellten fest, dass Waldorfschüler, die keine Antibiotika und Antipyretika nahmen, seltener an Entzündungen der Nasenschleim- und Augenbindehaut litten sowie deutlich weniger an Asthma und Neurodermitis. Die Autoren der Studie schreiben dem Meiden von Antibiotika und Antipyretika deshalb eine vor Allergien schützende Wirkung zu. Zumindest in puncto Antibiotika stimmen ihnen viele Experten zu.

„Die Untersuchung verkürzt stark“, sagt Alfred Längler, Leitender Arzt der Abteilung für Kinderheilkunde und Jugendmedizin am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke. „Kinder, die in anthroposophischen Arztpraxen betreut werden, werden nicht weniger behandelt, sondern anders.“ Bei einem fieberhaften Infekt verschreibe ein klassischer Schulmediziner einem Kind häufig über zehn Tage lang Antibiotika und bitte es, nach fünf Tagen wiederzukommen, falls es nicht besser wird. Sonst finde nach zehn Tagen noch eine abschließende Untersuchung statt, berichtet der anthroposophische Kinderarzt. „Wenn ich keine Therapie mit Antibiotika mache, entscheide ich mich, dem Kind bestimmte homöopathische und anthroposophische Medikamente zu geben. Das Fieber dauert dann unter Umständen drei bis fünf Tage. Ich würde den Eltern sagen, wenn es sich verschlimmert, melden Sie sich sofort, ansonsten möchte ich das Kind in zwei bis drei Tagen wieder sehen und danach wieder zwei Tage später.“

Die Medikamente sollen das Bakterium nicht abtöten wie Antibiotika, sondern das Kind stärken, damit es den Erreger überwinden kann. „Damit kommt es zu einem neuen, man könnte sagen höheren Zustand an Gesundheit: Das Immunsystem hat etwas dazugelernt“, erklärt Längler. Antibiotika, Antipyretika und Impfungen nähmen einem Kind die Möglichkeit, eine fieberhafte Erkrankung durchzumachen und damit immunologisch etwas zu lernen.

Gleichwohl rät der Arzt nicht generell zum Impfverzicht. „Es würde einer anthroposophischen Medizinsicht nicht gerecht werden, aus ideologischen Gründen nicht zu impfen. Es geht um die jeweilige Sachlage und die Übernahme der Verantwortung. Der scheinbare einfache Weg ist, den Impfempfehlungen zu folgen: Wer alle Impfungen macht, kann sich entschuldet fühlen. Doch bezogen auf den jeweiligen Menschen, sollten Arzt und Eltern eine Impfung in beide Richtungen kritisch hinterfragen.“ Problematisch wird es bei Masern. Eine Infektion kann zu schweren, sogar tödlichen Komplikationen führen. Von einer gezielten Ansteckung auf so genannten Masernpartys rät Längler dringend ab.

In der schwedischen Studie erwiesen sich Impfungen als weitgehend unerheblich. Nur nach Injektionen gegen Masern, Mumps und Röteln reagierten die Kinder öfter mit Symptomen, laufender Nase und tränenden Augen, berichten die Forscher. Die Impfakte sei geschlossen, urteilt Wahn vom Schwerpunkt Allergieprävention an der Charité. „Impfungen haben keinen Einfluss auf Allergien. Epidemiologen sind sich einig, dass allergische Kinder genauso geimpft werden können wie gesunde.“

Was aber schützt Kinder vor Allergien? „Mein persönliches Bauchgefühl ist, dass es etwas mit Ernährungsgewohnheiten zu tun hat“, sagt Wahn. „Anthroposophen ernähren sich beispielsweise besonders.“ Oft biodynamisch und selten konventionell, wie die schwedische Befragung ergab. Zu Essen als Schutzfaktor ist bislang erst wenig bekannt. Eine Charité-Studie ergab unlängst, dass Milchsäurebakterien nicht antiallergen wirken. Zumindest was die Ernährung Neugeborener angeht, sind sich die meisten Experten einig: Vier bis sechs Monate Stillen ohne Zufüttern wappnet Babys gegen Allergien.