„Wir funktionieren noch nicht“

Afghanistans Parlamentspräsident Junus Kanuni über den Umgang seiner Legislative mit dem Konvertiten Rahman und über die Schwächen der afghanischen Demokratie

taz: Am Mittwoch diskutierte das afghanische Parlament noch über den Konvertiten Abdul Rahman, ohne zu wissen, dass die Regierung ihn schon längst außer Landes gebracht hatte. Das hat die neue afghanische Demokratie nicht gerade gut aussehen lassen …

Junus Kanuni: Zunächst einmal muss ich darauf hinweisen, dass sich die Abgeordneten auf der routinemäßigen Mittwochssitzung des Parlaments nicht nur mit Abdul Rahman befasst haben. Es ging vielmehr um die Wahl unseres neuen Kabinetts. Einige Abgeordnete wollten den Fall aber auf die Tagesordnung setzen.

Das Plenum hat schließlich einmütig Kritik an der Freilassung und Ausreise des Mannes geübt. Da war es schon zu spät.

Was das Parlament formulierte, hat keine juristische Bedeutung. Die Abgeordneten haben eine Untersuchung des Vorgehens der Regierung und des Obersten Gerichtshofes gefordert. Zwei Kommissionen wollen sich jetzt damit beschäftigen und Untersuchungsberichte und Empfehlungen vorlegen.

Ein Vertrauensverhältnis zwischen Präsident Hamid Karsai und dem Parlament scheint nicht zu bestehen, sonst hätte er Sie über die Ausreise Rahmans nach Italien informiert.

Ja, es stimmt, wir waren nicht informiert. Aber ich möchte noch mal betonen, dass die Mitglieder des Abgeordnetenhauses nichts entscheiden werden, was gegen das öffentliche Interesse gerichtet ist. In Zukunft müssen sich Judikative, Legislative und Exekutive aber besser abstimmen. Die Situation in Afghanistan erlaubt es nicht, dass wir gegeneinander arbeiten. Ich weiß, dass einige Abgeordnete ihre eigenen Ansichten zum Fall Rahman haben, aber ich will in dieser Angelegenheit nun endlich konstruktive Lösungen sehen.

Das afghanische Parlament hat noch nicht richtig mit der Arbeit begonnen, noch gibt es keine politischen Parteien. Etliche Parlamentarier lernen gegenwärtig überhaupt erst Lesen und Schreiben. Wie lässt sich mit einem solchen Start-up-Parlament arbeiten?

Alles ist neu in Afghanistan. Wir wollen die Probleme mit intensiven Trainingsprogrammen überwinden, die wir mit den Geberländern verabredet haben. Es wird gegenwärtig in Haus viel diskutiert, und die Mitglieder tauschen sich intensiv über ihre neuen Erfahrungen aus.

Versteht das afghanische Volk, mit welchen Problemen das Parlament kämpfen muss?

Leider erweist sich das als ein großes Problem. Die Menschen haben gegenwärtig viel zu hohe Erwartungen. Das Parlament funktioniert aber noch nicht so, wie es funktionieren sollte, und die Menschen bekommen nicht die Informationen, die nötig wären, um zu verstehen, wie komplex der ganze Prozess ist. Wir haben noch keine gute Strategie um die Öffentlichkeit zu informieren. Wir haben ein Regierungs-TV und Regierungsagenturen. In Zukunft wünsche ich mir eine Liveübertragung der Parlamentssitzungen und bessere unabhängige Medien.

Wie lange wird es dauern, bis Afghanistan eine funktionierende Demokratie hat?

Das hängt natürlich von Ihrer Definition von Demokratie ab. Die Bonner Konferenz war ein sehr guter Start. Bis alles gut funktioniert wird es 15 bis 20 Jahre dauern. INTERVIEW:
ADRIENNE WOLTERSDORF,
KABUL