Bürgerliches Mittelmaß

GEGENSÄTZE Jo Lendle hat Osnabrück neben Montreal zur zweiten Säule seines neuen Romans gemacht

Die bösartige Lesart geht so: Osnabrück ist zum Weglaufen. Denn Lambert, Protagonist in Jo Lendles neuem Roman „Was wir Liebe nennen“, verlässt die Stadt gleich zu Anfang des Romans. Der Berufszauberer will für drei Tage zu einem Kongress nach Kanada fliegen. Und dort spielt auch der Großteil der Geschichte. Lambert, in Osnabrück mit Restauratorin Andrea liiert, verliebt sich in Montreal in die Biologin Fe und folgt ihr in die kanadische Wildnis.

Lendle ist in Osnabrück geboren, aber schon wenige Monate später zogen seine Eltern mit ihm weiter. Er kennt die Stadt nicht, macht sie aber trotzdem zur zweiten Säule seines vierten Romans. Denn fasziniert hat ihn seine unbekannte Geburtsstadt immer. „Was ist das für eine Heimat, die für mich eigentlich immer nur ein Name war“, sagt der 45-Jährige. Erst Anfang 2012 besuchte er Osnabrück für eine Lesung. „Als ich ankam, war es schon dunkel“, sagt er. „Als ich am nächsten Morgen abfuhr, immer noch.“ Dazwischen lag ein nächtlicher Spaziergang, der sich am Anfang des neuen Romans wiederfindet.

„Morgens um drei durch Osnabrück zu laufen, war wie ein Spaziergang durchs Universum kurz vor dem Urknall“, heißt es dort. Die Passage verweist vor allem auf die Zweifel von Lambert: Liebt er Andrea, mit der er schwere Zeiten durchgemacht hat? Oder doch Fe mit den wilden Locken, die er kaum kennt?

Montreal und Osnabrück stehen für diesen Gegensatz – hier das Ursprüngliche, wenn Lambert und Fe auf Wildpferden reiten und im Freien übernachten, dort das Bürgerliche. „Die Stadt steht für das Überschaubare, für das, was Lambert kennt“, sagt Lendle über Osnabrück. Und das passt zu einem Ort, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung vor Kurzem zur Stadt des Mittelmaßes kürte, in der Fahrradfahrer angeraunzt werden, wenn sie den Bürgersteig benutzen.

Einen Roman mit Osnabrücker Lokalkolorit hat Lendle nun wirklich nicht geschrieben. Auch über Kanada sind nicht viele Details zu erfahren. Lesen lässt sich „Was wir Liebe nennen“ also überall. Gut also, dass Lendle auf ausgedehnter Lesereise ist, die ihn unter anderem nach Hamburg, Bremen – und Osnabrück – führt.  ANNE REINERT

Jo Lendle liest beim Harbour Front Literaturfestival in Hamburg: 16. 9., 21 Uhr, Cap San Diego