: Nuscheln gegen den Tod
Sprachkünstler und Stimmenvirtuose: Elias Canettis „Hörwerk“
„Wie gern ich vorlese, wissen Sie“, schrieb Elias Canetti einmal seinem Lektor. „Es gibt kaum etwas, das ich lieber tue.“ Dennoch begann seine Laufbahn als Rezitator seiner Werke nicht gerade viel versprechend. Die ersten Lesungen, die Canetti als junger Autor in den Dreißigerjahren gab, gerieten zum Debakel.
Legendär sein Vortrag der Komödie der Eitelkeit in Wien im Hause Zsolnay: So selbstvergessen und gewalttätig erweckte er als Ein-Mann-Ensemble die Albtraumgestalten, die dieses Stück bevölkern, zum Leben, dass der entsetzte Franz Werfel ihn als „Tierstimmenimitator“ verhöhnte und mit einem „So lassen Sie doch die Finger davon!“ die Flucht ergriff. Nicht einmal jene beiden Zuhörer, auf die es ihm am meisten ankam, vermochte Canetti zu fesseln: All seine rhetorische Verwandlungskunst konnte nicht das „Augenspiel“ zwischen Hermann Broch und Anna Mahler verhindern.
Wer die jetzt auf zwei Silberlingen im praktischen MP3-Format gesammelten Lesungen, Vorträge, Essays, Aphorismen und Gespräche Canettis hört, vermag diese Erinnerungen freilich nicht ganz ernst zu nehmen – so gebannt lauscht man Canettis immer etwas zu schnellen, schnarrenden, ein wenig nuschelnden und doch zugleich so unglaublich intensiven und verwandlungsreichen Stimme. Selbst dann noch, wenn er merklich irritierten Journalisten feierlich verkündet, noch in hundert Jahren und darüber hinaus gelesen werden zu wollen.
Ob er sich über den Tod empört oder seine bizarren Charakterskizzen zum Leben erweckt wie die Bitterwicklerin, den Papiersäufer oder die Pferdedunkle, ob er das surrende „Ä-Ä-Ä-Ä-Ä“ eines mysteriösen Bündels auf dem Marktplatz von Marrakesch nachahmt oder den verlegenen Polizisten, der 1938 in Bad Aussee Hermann Broch verhaften musste: Man begreift schnell, warum in Erinnerungen von Weggefährten immer wieder der Sprachvirtuose und Stimmenkünstler Canetti gerühmt wird.
Geschult an Karl Kraus und mit einem phänomenalen Gedächtnis begabt, setzte sich Elias Canetti immer neue akustische Masken auf, die er zuvor auf seinen Streifzügen durch Berlin und Wien erbeutet hatte. Das jetzt bei Zweitausendeins zusammen mit einem vorbildlichen Begleitbuch erschienene Hörwerk aus drei Jahrzehnten mit einer Gesamtspielzeit von fünfunddreißig Stunden darf man daher ohne Übertreibung als ein Geschenk bezeichnen.
Die Herausgeber gruben in den Archiven der Rundfunkanstalten den größten Teil von Elias Canettis Werk aus. Dazu dokumentiert die Edition noch die großen Debatten wie die mit Adorno, das berührende Gespräch mit seinem ehemaligen Geschichtslehrer Friedrich Witz, aber auch das wenig bekannte mit dem Analytiker Alexander Mitscherlich.
OLIVER PFOHLMANN
Elias Canetti: „Das Hörwerk 1953–1991. Prosa, Dramen, Essays, Vorträge, Reden, Gespräche“. Hg. v. RobertGalitz, Kurt Kreiler und KatharinaTheml. Zweitausendeins,Frankfurt am Main 2005. 2 MP3-CDs,35 Stunden Spielzeit. 36,95 €
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