In Berlin träumt Vattenfall von Hamburg

ANDERSWO Wie Hamburg steht Berlin vor einem Volksentscheid über die Energieversorgung. Doch die Regierungsparteien SPD und CDU wollten keine Abstimmung zeitgleich zur Bundestagswahl

Von Olaf Scholz schwärmen Vattenfalls Vertreter in Berlin dieser Tage gerne: wie Hamburgs Erster Bürgermeister mit ihnen gegen die Initiatoren des Volksentscheids kämpft und dabei hinter einem großen Bündnis mit CDU, FDP, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaftern steht. Wäre die politische Lage in Berlin nur ebenso.

Auch in Berlin dominiert Vattenfall den Energiesektor, doch die Allianzen des Konzerns sind schwächer: Unter die Rekommunalisierungs-Kampagne des „Berliner Energietischs“ haben nicht nur Grüne, Linke und Piraten, sondern hat auch die SPD ihr Logo gesetzt. 2010 schrieben sich die Genossen die Übernahme von Strom-, Gas- und Fernwärmenetzen ins Programm. Doch jetzt, da für Gas und Strom die Konzessionsverfahren laufen und am 3. November der Volksentscheid ansteht, haben sie zwei Bremsklötze am Bein: ihren Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und seit 2011 den Koalitionspartner CDU.

Wowereit sagt weder zum Volksentscheid noch zu den Netzen etwas, doch hinter vorgehaltener Hand wird kolportiert, was der Regierende von der anvisierten Entmachtung Vattenfalls und des Gasnetzbetreibers Gasag hält: nichts. Mit dem Desaster beim Bau des Großflughafens BER hat Berlin schon genug Probleme – warum sollte Wowereit sich da noch Energienetze aufhalsen?

Weil es dafür nur einmal in 20 Jahren die Gelegenheit gibt, sagen die Befürworter. In einigen Monaten soll der Finanzsenator den Wettbewerb um das Gasnetz abschließen, Ende 2014 soll feststehen, wer das beste Angebot für das Stromnetz gemacht hat. Stadtentwicklungs- und Umweltsenator Michael Müller (SPD) soll Berlins Bewerbungen vorantreiben.

Doch es gibt da noch die CDU, die seit Beginn der rot-schwarzen Regierungskoalition zwar den handzahmen Juniorpartner gibt, bei den Energiefragen aber mittlerweile ihren ordnungspolitischen Markenkern gefunden hat. Der sieht mehr staatliches Engagement eigentlich nicht vor. Zu den im vergangenen Herbst vereinbarten Zielen der Koalition sind CDU-Regierungsmitglieder darum mittlerweile auf Distanz gegangen.

Vereinbart hatte Rot-Schwarz zwei Dinge: die Bewerbungen um die Netze, in deren Erfolgsfall Berlin zwischen 51 und 100 Prozent halten soll – ein Hintertürchen für einen Deal mit Vattenfall. Und die Gründung eines Stadtwerks. Doch als Müller dafür kürzlich ein Konzept vorlegte, brachte die CDU sogleich drohende Haushaltsrisiken ins Gespräch. Zuvor hatte die CDU die terminliche Trennung des Volksentscheids vom Tag der Bundestagswahl durchgesetzt – im Verbund mit Wowereit und gegen die SPD-Linke.

Der Energietisch hat somit gute Argumente dafür, dass der SPD kaum zu trauen ist, wenn sie nun sagt, der Entscheid sei überflüssig, sie werde dessen Ziele sowieso durchsetzen. Denn der vom Bündnis vorgelegte Volksentscheid will mehr als nur die Gründung eines Stadtwerks und eines Netzbetreibers. Der künftige Netzbetreiber soll Gewinne vor Ort reinvestieren und die Netze zugunsten der Energiewende dezentralisieren. Und ein künftiges Stadtwerk soll nicht nur Ökostrom produzieren, sondern auch die energetische Gebäudesanierung voranbringen und Stromsperren armer Haushalte vermeiden. In den Aufsichtsgremien der Unternehmen sollen neben zwei Senatsmitgliedern und sieben Arbeitnehmern sechs direkt gewählte Bürger sitzen.

Mindestens 620.000 der 2,4 Millionen Berliner Wahlberechtigten müssen dafür am 3. November unterschreiben. Dass das klappen kann, daran erinnert sich Berlin dieser Tage: Das Land ist gerade dabei, den letzten Anteil an seinen einst teilprivatisierten Wasserbetrieben zurückzukaufen. Angestoßen wurde dieser Rückkauf von Berlins bisher einzig erfolgreichem Volksentscheid: dem für die Offenlegung der Privatisierungsverträge von 2011.

SEBASTIAN PUSCHNER