China sucht nach Atom-Autonomie

Die Lobbyisten der Atomkraft versprechen der Branche einen neuen Frühling in Asien

PEKING taz ■ Zuerst fuhr US-Präsident George W. Bush Anfang März nach Indien, um das erste Nuklearabkommen zwischen Washington und Neu-Delhi zu unterzeichnen. Nun hält sich der chinesischen Premierminister Wen Jiabao in Australien auf, um dort ebenfalls den ersten Atomdeal zwischen beiden Ländern zu zeichnen. Trotz der sehr unterschiedlichen Natur beider Abkommen scheinen sie einen gemeinsamen Nenner zu haben: das Wiedererstarken der Atomenergie, vor allem in Asien. Denn unabhängig davon, ob die USA AKW-Technologie nach Indien oder Australien Uran nach China liefern will – beides soll dem Aufbau einer starken zivilen Atomindustrie in jenen Ländern dienen, deren Wachstum für die Weltwirtschaft heute richtungsweisend ist: China und Indien.

Die Abkommen bekommen Rückenwind von der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien (IAEA), deren Aufgabe im Wesentlichen nicht die Beschäftigung mit geheimen Atomprogrammen im Iran, sondern die weltweite Förderung der Atomenergie ist. So meldete die Behörde vergangenes Jahr, dass von den 31 zuletzt weltweit ans Netz gegangenen Reaktoren 22 in Asien waren. 18 von 27 derzeit im Bau befindlichen Reaktoren befänden sich ebenfalls in Asien. Das führt die Atombehörde zu der Voraussage, dass bis zum Jahr 2020 weltweit 60 neue Atomreaktoren gebaut werden, die meisten davon in Asien – und hier ganz speziell in China.

Diese Vorhersage baut auf dem Glauben an die Ankündigungen vor allem der Regierung Chinas auf. Diese verfügt bisher nur über neun in Betrieb genommene Atomreaktoren. Kapazität: knapp 7.000 Megawatt. Das entspricht 1,6 Prozent der Elektrizitätskapazität des Landes.

Also hat China, heute bereits der zweitgrößte Energieverbraucher der Welt, Pläne entworfen, bis zum Jahr 2020 4 Prozent des landesweiten Elektrizitätsverbrauchs aus Atomkraftwerken zu decken. Dafür sollen in den nächsten 15 Jahren 30 neue AKWs gebaut werden – die Hälfte der von der Wiener Atombehörde angekündigten Reaktorneubauten. Indien mit seinen bisher 14 laufenden und 8 im Bau befindlichen Reaktoren soll für einen gut Teil der restlichen Neubauten sorgen.

Doch aufgepasst! Das alles sind Prophezeiungen und Zahlenspiele interessierter Lobbyisten. Sie haben das Interesse, der weltweit stagnierenden Atombranche einen neuen Frühling in Asien zu versprechen. Inwieweit die Regierungen in Peking und Neu-Delhi aber tatsächlich ihren Ankündigungen Folge leisten, das entscheiden nicht die Lobbyisten, sondern hängt vom Kilowattpreis für Atomstrom ab. Und der liegt heute in China und Indien nach wie vor bedeutend höher als der Strompreis aus herkömmlichen Kraftwerken.

Auch ist nicht klar, inwieweit das gestern in Canberra unterzeichnete Uranabkommen die zukünftigen Atomstrompreise in China begünstigt. Zwar mag es für die Entwicklung der Branche Sicherheit versprechen, wenn Australien als Land mit den größten Uranvorkommen China als Handelspartner für den hochsensiblen Stoff anerkennt. Doch sagt das Abkommen nichts über die seit Jahren rapide steigenden Uranpreise und ersetzt in keiner Weise die kommerziellen Verhandlungen zwischen australischen Rohstoffkonzernen und ihren chinesischen Abnehmern. Nicht umsonst forderte Premier Wen gestern einen „fairen Preismechanismus“. Denn sowohl die Eisenerz- als auch die Uranpreise könnten Pekings energiepolitische Pläne bald auf die Probe stellen.

Hinzu kommt in China für den Bereich der Atomenergie eine fast schon traditionelle Zurückhaltung. Obwohl das Land seit 1964 Atommacht ist, hat es die zivile Nutzung der Atomenergie zu keinem Zeitpunkt massiv gefördert. Ein Grund dafür sind die hohen Investitionskosten, die sich das Land lange nicht leisten konnte. Einen zweiten, derzeit wichtigeren Grund nannte Premier Wen im vergangenen Jahr bei der Inspektion des einen von bislang nur zwei AKW-Standorten in China, Daya Bay nahe Hongkong. „China sollte in Zukunft ein Selbstversorgersystem für die Atomkraftindustrie aufbauen.“ Mit anderen Worten: China will sich neue AKWs nicht im Ausland besorgen. Derzeit aber hat das Land noch keine andere Wahl.

Um die zurzeit ausgeschrieben Bauprojekte konkurrieren der deutsch-französische Framatome-Konzern und der jüngst vom japanischen AKW-Hersteller Toshiba übernommene Westinghouse-Konzern. Die Lage ist vergleichbar mit der Eisenbahnindustrie: China hielt die westlichen Hersteller jahrelang hin, bis es sich vor kurzem für den Bau einer eigenen Schnellbahn zwischen Peking und Schanghai entschied. Bis China im AKW-Bereich ähnlich weit ist, wird viel Zeit vergehen – Jahre, in denen sich die mit dem neuen Uranabkommen verbundenen Hoffnungen der internationalen Atomlobby voraussichtlich nicht erfüllen. GEORG BLUME