Wann kommt der Arzt?

AUS RUDERSBERGPHILIPP MAUSSHARDT
UNDTHEODOR BARTH (FOTOS)

Um sechs Uhr war Alexander Beck, 48, aufgestanden, so wie jeden Tag. Er hatte mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern gefrühstückt und war dann in seinen blauen VW-Golf zur Arztpraxis gefahren, obwohl die nur zweihundert Meter entfernt liegt. Aber als Landarzt weiß man nie, ob man nicht ganz schnell gerufen wird. Da ist es besser, das Auto parkt vor der Tür. „Guten Morgen Frau Steiner“, die Sprechstundenhilfe ist kurz vor sieben Uhr schon da, und auch Kollegin Frau Dr. Evelyn Walter wird gleich kommen. Ab sieben Uhr ist die Praxis geöffnet.

Beck überfliegt die Karteikarten der angemeldeten Patienten, die ihm die Arzthelferin vorbereitet hat, nimmt seinen Koffer und sagt: „Ich bin noch kurz bei Grauers“ * – der erste Hausbesuch heute. Als er eine halbe Stunde später zurückkommt, warten schon acht Patienten.

7.40 Uhr. „Herr Doktor, es juckt so.“ Die Patientin zeigt Beck einen gerötete Stelle am Bauch. „Ihre Haut ist sehr trocken, versuchen Sie es mal mit einer Fettcreme“, sagt er und bittet die nächste Patientin herein. Sie braucht neue Psychopharmaka, Beck überweist lieber zum psychiatrischen Facharzt ins nahe Schorndorf. „A bissle illegal“, antwortet Patient Nummer drei an diesem Morgen auf Becks Frage, woher er denn früher die 50 Euro täglich für seine Heroinsucht genommen habe. Der junge Mann, griechisch-schwäbischer Dialekt, ist im Metadonprogramm, er bekommt in Becks Landarztpraxis seine Ersatzdroge gespritzt. Tür auf, Tür zu. Der alte Müller hat ein Zittern im rechten Arm. „Kommen Sie die steile Treppe denn noch gut hinunter?“, fragt Beck, der die Getreidemühle gut kennt. Beck vermutet Parkinson im Frühstadium und überweist an den Neurologen.

8.20 Uhr. Eine Mutter hat sich beim Stillen einen Rückennerv eingeklemmt. Jetzt kann sie sich kaum bewegen. Beck verschreibt Massagen. Die nächste Frau, die auf dem Stuhl im Sprechzimmer Platz nimmt, ist knapp über dreißig, sie hat vier Kinder und üble Erinnerungen an das Kosovo. Ohne Mittel gegen Depressionen könnte die Roma-Frau ihren Alltag nicht organisieren. Beck schreibt ein neues Rezept aus und rechnet zusammen: „Antidepressiva 106 Euro, Schmerzmittel 64 Euro und ein Mittel gegen Übelkeit 11 Euro“. Viel zu viel. Nach dem Leistungskatalog der Krankenkassen stehen für diese Patientin 40 Euro im ganzen Quartal zu Verfügung.

„Der Nächste bitte!“ Der Nächste ist handfest, ein Mann wie ein Bär, Gastwirt von Beruf, nun hat er sich beim Kistenschleppen das „Kreuz ausgerenkt“. Beck bearbeitet ihn, drückt hier, zieht da, „ganz locker bleiben“, sagt der Arzt, „Aua!“, schreit der Bär. Ihm folgt eine ältere Dame, die es in ihrer Wohnung nicht mehr aushält. „Diese Milben, Herr Doktor! Sie müssen mir eine Bescheinigung fürs Wohnungsamt ausstellen, damit ich da rauskomme.“ Vorsichtig fragt Beck nach den Hintergründen. Zu einem Facharzt für Psychiatrie will die Patientin aber „auf keinen Fall. Ich bin doch nicht verrückt.“

9.45 Uhr. Pause. Becks Kollegin Dr. Walter, die nebenan behandelt, kommt auf eine Tasse Kaffee und ein Käsebrötchen vorbei. In Rudersberg, wo mit allen eingemeindeten Dörfern insgesamt 11.000 Menschen leben, arbeiten neun Allgemeinmediziner. Wer weniger als 1.000 Patienten im Quartal hat, rutscht schon in die kritische Zone. „Ein Kollege“, erzählt Beck und beißt in sein Brötchen, „wollte kürzlich einen Kredit.“ Er hat ihn nicht bekommen, „weil eine Arztpraxis inzwischen ein schlechteres Ranking hat als ein Fußballclub“.

Ein letzter Schluck, dann packt Beck sein Köfferchen fürs Altenheim. Ab zehn Uhr warten im Alexanderstift die Bewohner auf den Arzt. Beck nimmt die Abkürzung durch einen Privatgarten, vorbei an Buchshecken und Rhododendron. Zweimal hat das Alten- und Pflegeheim schon angerufen, wo er denn bleibte Die Pflegedienstleiterin wartet schon. „Frau Orgeldinger hat Hämorrhoidenblutungen, Frau Striebel reißt sich die Infusionen raus, Frau Allermann ist gestürzt.“ Beck macht sich Notizen, ordnet die Patientenkarten nach der Tour durch die Zimmer.

Einmal in der Woche macht Beck die Runde durchs Alexanderstift, für manche Bewohnerinnen ist das der Höhepunkt der Woche. Für andere, wie Frau Wondratschek, wohl nur eine Schatten in der Tür. Die 93-Jährige wird seit über zwei Jahren künstlich ernährt, sie reagiert auf nichts. Drei Zimmer weiter wartet Frau Storz mit Lungenfibrose. Ohne Sauerstoffgerät kann sie nicht mehr leben und in ihren Beinen lagert sich das Wasser ein. „Eigentlich bräuchten Sie einen Lymphdrainage“, sagte Beck zu ihr, „aber das ist im Etat nicht drin.“ Er verschreibt es trotzdem. „Sollen Sie mich halt dafür bestrafen,“ sagt er. Wenn Beck sein Budget für Medikamente oder bestimmte Anwendungen überzieht, droht ihm eine Geldstrafe durch die Kassenärztliche Vereinigung. Auf dem Tisch von Frau Storz stehen Medikamente für mehrere hundert Euro, und an der Eingangstür steht der Spruch: „Wenn die Frauen verblühen, verduften die Männer.“

Ein Zimmer weiter. Frau Oberle ist erkältet, die Diabetikerin fragt mit Galgenhumor: „Komm ich noch mal davon, Herr Doktor?“ Sie kommt. Herr Schmitt hat Schmerzen in den Füßen, Frau Lüttke Arthrose im rechten Bein.

12.51 Uhr. Beck verbindet bei Herrn Sailer, dem dementen Schneidermeister, die aufgeplatzten Hautblasen. „Großer Gott, wir loben dich“, kommt eine Stimme von irgendwoher. „Frau Wagner singt das schon seit Tagen“, sagt die Pflegedienstleiterin, die jetzt in ihrem Dienstzimmer mit Beck die Liste der Patienten durchgeht und für jede Bewohnerin die Medikamententenliste festlegt. Dann noch die „Wunddokumentation“ schreiben für die Heimaufsicht und die „Lagerungspläne“ für die Krankenkasse. Es ist 13.24 Uhr und Beck hat noch nicht zu Mittag gegessen.

Es ist die eine Stunde zwischen 14 und 15 Uhr, in der Alexander Beck durchatmet. Seine Frau, die in der Leitung eine privaten Reha-Klinik arbeitet, hat das Mittagessen gestern vorgekocht. Als Beck vor zehn Jahren die Praxis in Rudersberg übernahm, galt sein Beruf bei der Kreissparkasse noch als kreditwürdig. „Wenn sie mir heute auch nur zehn Prozent an den Einnahmen kürzen würden, könnte ich die Praxis schließen“, sagt er. Beck wollte immer aufs Land. „Ich mag den Beruf des Landarztes, weil er mehr ist als reine medizinische Versorgung. Ich behandle keine Krankheiten, sondern Menschen als Individuen.“ Dass die Krankenkassen die Therapie für jede Krankheit formatieren wollten wie ausgestanzte Blechfiguren und er sich bei jeder Abweichung davon rechtfertigen müsse wie ein Delinquent, „das ist für mich der eigentlich Skandal dieser so genannten Gesundheitsreform“.

Erst kürzlich hat Beck das erste Mal in seinem Leben gestreikt. Er hat die Praxis zugemacht und ist nach Berlin gefahren, um sich an einer Demonstration der niedergelassenen Ärzte gegen die Gesundheitsreform zu beteiligen. „Es geht mir wirklich nicht ums Geld“, sagt er. Beck verdient im Monat zwischen 7.000 und 8.000 Euro brutto.

15 Uhr. Weiter geht’s . Heute ist der Nachmittag Hausbesuchen vorbehalten. Frau Stelzer hatte schon am Vormittag angerufen, ihrem Mann ginge es nicht gut. Nun steht Beck im Wohnzimmer, wo der alte Herr Stelzer sich mit Unterleibschmerzen auf dem Sofa windet. „Sieht nicht gut aus“, sagt Beck, untersucht den Patienten kurz und ruft im Krankenhaus an. Während der Rettungswagen unterwegs ist, sitzt Beck schon wieder in seinem Golf, unterwegs ins benachbarte Asberglen. Ein Parkinson-Patient wartet schon ungeduldig auf den Arzt, normalerweise geht er um 14 Uhr ins Bett. „Besser ist es nicht geworden“, sagt dessen Frau, „eher im Gegenteil.“ Es sind kleine Häuser hier in der Gegend, mit schmalen Treppen und niedrigen Decken. Das Wieslauftal zählt nicht mehr zum Speckgürtel um die Landeshauptstadt Stuttgart, wo in mittelständischen Unternehmen noch immer gut verdient wird. Die Äcker hier sind immer klein gewesen, und wer es zu etwas bringen wollte, musste auswandern. Peter Klein, vor dessen Haus der Arzt nun hält, hat fast sein ganzes Leben als Filmvorführer gearbeitet, freiberuflich. Jetzt ist er krank, aber nicht versichert. Sein Porsche fahrender Chef, der mit einem Kinoimperium im Stuttgarter Großraum ein Vermögen gemacht hat, will ihn jetzt im Alter nicht mehr fest anstellen. Kleins Füße sind geschwollen, seine Mutter liegt auf dem Sofa und kann sich kaum noch bewegen. „Kommen Sie in der Praxis vorbei“, sagt Beck zu dem Mann, „dann geb ich Ihnen dort ein Mittel mit.“

Auf Feldwegen kurvt Beck von Dorf zu Dorf, von Schlechtbach nach Zumhof, von Krehwinkel nach Michelau. Blutdruck messen, Lunge abhören, Zuckerwert kontrollieren. Ein Hausbesuch ist laut Gebührenordnung (Ziffer 01410) mit 400 Punkten abzurechnen und mit 4,1 Cent zu multiplizieren. Macht pro Klingelputzen 16,40 Euro. Dafür käme kein Klempner vorbei.

18.55 Uhr. Beck drückt in Rudersberg die letzte Klingel für heute. Der Gestank in der Wohnung verschlägt einem den Atem. Beck hatte den 65-jährigen allein lebenden Rentner am Wochenende völlig betrunken auf der Straße liegend gefunden und nach Hause gebracht. Jetzt will er nachschauen, was aus ihm geworden ist. „Ich werd nichts mehr trinken, Herr Doktor“, sagt der Alkoholiker. Beck ermahnt ihn: „Wenn ich Sie noch mal in einem solchen Zustand finde, lasse ich sie einliefern.“ Der Mann hat keinen Kontakt im Dorf, aufgewachsen ist er irgendwo im Norden. So grausam kann schwäbische Idylle sein. Der Mund des Patienten ist völlig entzündet. Auf dem Tisch steht eine halb geleerte Dose Ananas. „Ich bekomme kaum etwas hinunter“, sagt der Patient. Aber ein Mittel gegen die Entzündung gibt es nicht, jedenfalls nicht auf Krankenschein. „Mundpflege“, sagt Beck, „ist nicht im Leistungskatalog enthalten.“ Der Mann braucht ein Blutverdünnungsmittel, seit er eine Herzklappe hat, doch manchmal fehlt für die Zuzahlung das Geld, und er holt sich das Medikament erst gar nicht in der Apotheke ab.

Beck fährt nach Hause. Kurz duschen, um 20 Uhr beginnt in Schorndorf eine Fortbildung über das neue Notrufsystem in der Region. Mitternacht ist Beck zu Hause. Sechs Stunden schlafen und wieder: „Herr Doktor, mir tut’s im Knie so weh.“

* Alle Namen bis auf den von Alexander Beck und Evelyn Walter geändert