Rechte minderer Güte

Vom Wachsen des Ausnahmezustandes: Vortrag von Katja Diefenbach in der NGBK

Lässt es sich gesellschaftstheoretisch noch miteinander vereinbaren, wenn an der notorischen Neuköllner Rütli-Hauptschule mittlerweile 1-Euro-Jobber für die Sicherheit sorgen, während populistische Stimmen aus der Politik für delinquente Migrantenkinder und ihre Familien den sukzessiven Ausschluss von sozialen Rechten fordern?

Im Rahmen der NGBK-Reihe „Prekäre Perspektiven“ war die Berliner Sozialwissenschaftlerin Katja Diefenbach am Dienstag eingeladen, um über die Zusammenhänge von Migrationskonflikten und der Entwicklung prekärer Arbeitsverhältnisse zu sprechen. Das Interesse beim Publikum war entsprechend groß. In ihrem Vortrag „Die Ankunft der Polizei. In der Einsamkeit der 24/24h Gesellschaft. Zum Verhältnis von Recht, Biopolitik und Kapital“ beschäftigte sich Diefenbach vor allem mit Giorgio Agambens Thesen über den Ausnahmezustand. Das scheint nahe liegend. Denn hat man es nicht in beiden Fällen mit Formen der rechtlichen Einschließung ausgeschlossener Körper zu tun – also mit der gesellschaftlichen Produktion von „Überschussbevölkerung“, wie es das NGBK-Ankündigungsschreiben salopp formulierte?

Für Diefenbach ist mit dem internationalen Migrationsregime der krisennahen Flüchtlingsunterbringung bis hin zu exterritorialen Lagern erkennbar geworden, dass der Zugang zu sozialen Rechten und Aufenthaltsrechten flexibilisiert worden ist. Hierfür habe Agamben mit der Argumentationsfigur eines Rechts, das sich von sich selbst abwendet und damit über das Leben verfügt, eine brauchbare Theorie geliefert: „Mit der These vom Lager als erstem Raum dieses Rechts, das über die Potenz verfügt, dass Recht und Gewalt ununterscheidbar werden“, sei eine Lücke in der Theorie der Biomacht geschlossen worden.

Aber wie passt Agambens Theorie des Ausnahmezustands mit der Prekarisierung im Kapitalismus zusammen? Bei Hartz IV zeige sich eine „fluktuierende Doppelsystematik von Kontrolle und Entrechtung“. Damit nehme das Recht genau die von Agamben diskutierte Möglichkeitsform an: durch das Ausschnüffeln der Privatsphäre von Betroffenen und sinnlose Aktivierungsmaßnahmen „Nicht-Recht zu sein und seine kafkaeske Tendenz zu entfalten, das heißt monströs, undurchschaubar und irregulär zu werden“.

Zugleich möchte Diefenbach die Prekarisierung nicht als einheitliche gesellschaftliche Tendenz begreifen, sondern als ein dynamisches Gefüge, „ein Regime von Selbstmobilisierung, Selbstverwertung, Verarmung, Zwang und potenzieller Exklusion“. Das reicht von begrenzten Aufenthaltsrechten, Zeitverträgen und kreativer Projektarbeit bis zum „hysterischen Anerkennungsbedarf“ aufseiten der Betroffenen. Im Falle der Rütli-Schule sei wiederum deutlich erkennbar geworden, dass „die fluktuierende Suspendierung von Rechten, wie sie bei MigrantInnen ausgeübt wird“ keine Tendenz ist, „die perspektivisch alle treffen wird, sondern eine rassistische Intensivierung“.

Doch was soll man, betäubt von aller Theorie, bloß tun? Vielleicht muss man ganz schnöde zurück zur Praxis. Eine Zuschauerin wundert sich, dass die Straßenproteste in Frankreich immer viel massiver als in Deutschland ausfallen; ein anderer fragt, wie Solidarität zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen jetzt überhaupt noch möglich sei. Es sei eben, meint Diefenbach, die Frage, wie weit man sich mit Theorie beschäftigen müsse. Zumindest aber könne es in einem biopolitischen Kapitalismus eben auch wichtig werden, „das Politische nicht von der Tätigkeit her zu denken“, sondern von der Möglichkeit aus, „in der Potenz zu bleiben, nicht tätig zu sein“. JAN-HENDRIK WULF