Die Zähne von Rainer

Es wird gesoffen und gepöbelt: Andreas Gläser erzählt Geschichten vom Fußball, der Jugend im Osten und den Nervensägen der Großstadt. Und manchmal denkt man: von der Kneipe gleich in die Feder

VON ANDREAS RESCH

Wenn Andreas Gläser vom BFC Dynamo Berlin erzählt, vergisst man beinahe, dass der Verein seine große Zeit längst hinter sich hat. Der Club, der zwischen 1979 und 1988 zehn DDR-Meisterschaften hintereinander gewann, kickt mittlerweile in der Oberliga gegen Provinzgrößen wie Falkensee oder Anker Wismar. Gläser, dessen zweites Buch mit dem brachialen Titel „DJ Baufresse“ gerade erschienen ist, spricht gerne und viel über den BFC.

Ja, er erzählt mir beim Treffen in einer Baiz, dass er, der in Prenzlauer Berg aufwuchs, aufgrund seiner BFC-Obsession überhaupt mit dem Schreiben angefangen hat: „In der Brunnenstraße gab es Mitte der Neunzigerjahre einen Fanladen namens Anstoß. Da kursierten viele Fanzines, in denen es um Fußball, Punkrock und Politik ging.“ Dort hat er Fußballgeschichten eingereicht, die ziemlich gut ankamen. Und so hat Andreas Gläser weiter geschrieben. Irgendwann – so um 1998 – begleitete er einen Freund auf eine Lesebühnen-Veranstaltung. Beim dritten Mal fragte Gläser, ob er selbst etwas vortragen könnte.

Allerdings hatte er bisher nur über Fußball geschrieben – „da kann man sich als Autor ziemlich weit zurücknehmen – durch die Spiele passiert ja immer etwas und jede Geschichte hat ein klares Ende.“ Doch auf der Bühne konnte er unmöglich ausschließlich Fußballgeschichten vortragen. Deshalb musste er sich erst einmal orientieren – wie machen das die anderen? Er lernte schnell und gründete bald mit Gleichgesinnten die Lesebühne „Chaussee der Enthusiasten“.

Aus der „Enthusiasten“-Zeit stammen die meisten der Texte in seinem ersten Buch „Der BFC war schuld am Mauerbau“. Die Titelstory gibt dem unwissenden Leser einen Einblick, warum der BFC in der DDR noch mehr gehasst wurde als Bayern München im Westen: „Im Januar 66 schwang Erich Mielke auf der Gründungsfeier die große Vereinsfahne. Er betrachtete den BFC als die Abteilung Leibesübungen des Ministeriums für Staatssicherheit.“ Sympathisch, dieser Verein! Andreas Gläser weiß natürlich um das schlechte Image seines Clubs – es ist ihm aber egal. Schließlich kann man sich die Mannschaft, an die man als Jugendlicher sein Herz verliert, nicht aussuchen.

Goldbrand und Grunzen

Andere Texte erzählen – ironisch distanziert – von Alltagserlebnissen in der DDR: Schulzeit, erste Liebe, Einstieg ins Arbeitsleben. Da Andreas Gläser nach der Schulzeit lange im Tiefbau gearbeitet hat, sind Geschichten aus der Welt eines DDR-Bauarbeiters ebenfalls feste Konstanten im Gläser-Universum. Absurd jedoch die Vorstellung, sich ihn als schreibenden Arbeiter nach der Losung „Greif zur Feder, Kumpel!“ vorzustellen. Dafür sind seine Erzählungen zu wenig vereinbar mit dem DDR-Gesellschafts- und Kunstideal, erinnern sie doch mehr an Charles Bukowski denn an Johannes R. Becher.

Auch „DJ Baufresse“ enthält mehrere solcher Baustellengeschichten. In der Geschichte „Studentensommer – Arbeiterherbst“ geht es um Gläsers Anfangszeiten im Tiefbau: Es wird gesoffen, gepöbelt, wenig gearbeitet. Vor allem Kollege Rainer ist ein echtes Original: „Seine oberen Schneidezähne hatte er schon versoffen. Wenn er seinen Goldbrand auf Schleichwegen an der Bauleitung vorbei schleppte, riskierte Rainer auch seine untere Kauleiste, denn er spazierte nicht über die Brücke, sondern balancierte über eine wackelige Bohle.“

In einer anderen Story sitzt der Protagonist in einer Bar in Irland. Der Reihe nach tragen alle Gäste ein Lied vor. Der Erzähler wird immer nervöser, als ihm dämmert, dass er auch irgendwann singen muss. Aber es will ihm partout kein passender Titel einfallen. Als ihn sämtliche Lokalinsassen erwartungsfroh anstarren, schmettert er zutiefst verzweifelt: „Rammstein, ein Mensch brennt …“, um danach fluchtartig die Bar zu verlassen.

Auf die Frage, ob das wirklich so passiert sei, weicht Gläser lächelnd aus, sagt, er sei tatsächlich in dieser Bar gewesen, habe sich jedoch nicht getraut zu singen. Heute wäre so etwas aber kein Problem mehr. Um seine Aussage zu unterstreichen, stimmt er den Jingle der DDR-Sportsendung „He, he, he, der Sport an der Spree“ an: „7, 8, 9, 10 – klasse. Wochenende im Gelände. Auf dem Rasen, auf den Rängen, da geht’s rund.“ Verwirrt bestelle ich noch ein Bier.

Die Titelgeschichte des neuen Buches beginnt mit dem Protagonisten – DJ Baufresse –, der nachts im Bett über das Leben sinniert. Dieser Dämmerzustand wird jäh durch das Weinen seines zweijährigen Sohnes Emil unterbrochen. Nachdem er ihn endlich beruhigt hat, stört ein Mann die wohlverdiente Nachtruhe, der seinen Sex in lautem Grunzen zelebriert. Der Erzähler brüllt aus dem Fenster, klingelt schließlich beim „Viagra-Vieh“, um von diesem als „Stasispitzel“ beschimpft zu werden. Einer langen, unruhigen Nacht folgt ein endloser Morgen: aufstehen, duschen, Gang zum Bäcker, Frühstück. Das klingt banal, ist aber ungemein unterhaltsam, weil auch der Fluss dieser Episode kontrapunktisch von einer unerwarteten Heimsuchung durchkreuzt wird: in diesem Fall von einem Radfahrer. Was beim Lesen so großen Spaß macht, ist, dass hier jemand auf Konfrontationskurs mit den täglichen Nervereien des Großstadtlebens geht. Die in Berliner Slang gehaltenen Dialoge wirken zwar wie in der Eckkneipe mitgeschrieben, sind aber genau konzipiert.

Während sich das Gespräch langsam dem Ende zuneigt, nähert sich ein junger Mann unserem Tisch: „Die taz von morgen?“ Gläser sieht ihn kurz an, antwortet „Wir arbeiten dran“ und nimmt einen Schluck Bier. Andreas Gläser schreibt, wie er spricht: trocken und kein Wort zu viel.

Andreas Gläser: „DJ Baufresse“. Gustav Kiepenheuer Verlag, Berlin 2006, 230 Seiten, 14,90 €, Lesetermine auf: www.baufresse.de