Die Ordnung der Dinge

RÄTSEL DES ALLTAGS „… verkehrt heute in umgekehrter Wagenreihung“. Das gibt Chaos auf dem Bahnsteig. Und wie kommt es dazu?

VON LEYLA DERE

Der Wagenstandsanzeiger ist die eigentliche Autorität auf dem Bahnsteig, mehr noch: ein Navigator durch die Massen auf den meist überfüllten Plattformen zwischen den Gleisen.

In Gestalt eines rührend bunten Schaubilds hängt er an zentralen Stellen nahe der Aufgangstreppen und besorgt ganz still die Ordnung der Dinge: Fahrgäste erster Klasse dorthin, Hungrige da, Reisende mit Kindern in Abschnitt C, Inhaber einer Bahn-Comfort-Karte in die Mitte, wo freie Plätze auch ohne Reservierung für sie bereitgehalten werden. Und wer eine Platzkarte hat, findet auf dem Wagenstandsanzeiger präzise – wenn der Zug denn wie angekündigt einfährt – seine strategisch beste Warteposition zum komfortablen Einstieg. Ja, wenn der Zug wie angekündigt einfährt. Tut er es nicht, ist die Macht des Wagenstandsanzeigers dahin. Und auf dem Bahnsteig bricht das Chaos aus. Besonders ausgeprägt, wenn aus den Lautsprechern die Ansage scheppert „… verkehrt heute in umgekehrter Wagenreihung“. Wer muss jetzt wohin? Wenn Wagen 24 eigentlich bei D ist, dann ist er umgekehrt wo? Rechnerei, Rennerei. Auf dem Bahnsteig, im Zug. Schwer bepackte Fernreisende, verzweifelte Kinderwagenbesatzungen, hechelnde Anzugträger.

„… verkehrt in umgekehrter Wagenreihung“ – viele Reisende verstehen das offenbar auch nicht. Weil sie die Autorität des Schaubilds höher einschätzen oder ihnen das Fachwort der Deutschen Bahn verschlüsselt bleibt. Wäre es das erste Mal, dass ein Terminus technicus mehr verschleiert als sagt? Nach Angaben des Fahrgastverbandes Pro Bahn zumindest gehört die veränderte Wagenreihung zu den häufigsten Beschwerden der Fahrgäste, sagt Pro-Bahn-Sprecher Matthias Oomen. Was? Nicht die Verspätungen, die Zugausfälle? Überraschend, diese Bahnfahrer. Findet auch die Bahn selbst. Ein Anruf in der Presseabteilung der Bahn: „Wenn das für den Fahrgast das größte Ärgernis an der Bahn ist“, sagt ein Bahn-Sprecher, dann sei er glücklich. Er scheint es auch oft erklärt zu haben, wo das Problem liegt, wenn Wagen nicht dort halten, wo sie halten sollen. Die Leute, sagt er, würden den logistischen und technischen Aufwand nicht verstehen, der notwendig ist, um eine umgekehrte Wagenreihung in Ordnung zu bringen. Es scheint nicht so einfach zu sein wie zu Hause bei der Holzeisenbahn.

Fragen wir also das Fußvolk der Bahn. Die, die am Bahnsteig stehen, blau uniformiert mit rotem Käppi. Wenn jemand das Zustandekommen einer umgekehrten Wagenreihung und die Tücken ihrer Reorganisierung erklären können muss, dann doch Sie, oder Frau – nennen wir sie – Schneider?

Zur umgekehrten Wagenreihung kommt es meistens, wenn eine ICE-Strecke gesperrt ist, wegen Gleisarbeiten, Hochwassers oder wegen eines Unfalls, sagt sie. Wenn dann noch ein Kopfbahnhof im Spiel ist, gerät der Zug durcheinander. Leipzig oder Frankfurt am Main sind Kopfbahnhöfe, auch Sackbahnhöfe genannt. Dort wechseln Züge immer ihre Fahrtrichtung, wenn sie aus ihnen herausfahren. Denn eine Durchfahrt ist nicht möglich. Wenn ein Zug etwa von München nach Berlin fährt, kann er über Leipzig – mit Fahrtrichtungswechsel – oder über Halle – ein Durchgangsbahnhof – fahren. Muss ein Zug auf dieser Strecke wegen einer Störung den planmäßigen Fahrweg verlassen, fährt er ab Leipzig oder Halle umgekehrt weiter. Das führt zu Chaos auf allen Unterwegsbahnhöfen, da kann auch der Wagenstandsanzeiger nichts mehr machen. Veränderte Reihung kann auch entstehen, wenn ein ICE defekt ist und ausgetauscht werden muss – und der Ersatzzug quasi falsch herum steht. Wenn hinten vorne ist und vorne hinten. Fährt ein Zug dann einmal verkehrt, kann dieser Zustand mehrere Tage anhalten.

Nichts zu machen

Warum reiht die Bahn die Wagen nicht einfach um? Rangieren, wie man es zu Hause am Holzgleis auch machen würde. So stellt es sich der Reisende doch vor.

„Weil die ICEs Triebzüge sind, also festgefügte Einheiten, deren Wagenfolge im täglichen Betrieb nicht verändert werden kann“, sagt nun, da die Grundlagen geklärt sind, wieder der Bahn-Sprecher. Die erste Klasse ist immer am Ende eines Triebzugs, um, wie er sagt, „möglichst wenige Fahrgastbewegungen während der Fahrt in dem Premiumbereich zu generieren“. Zweitklässler sollen da also nicht dauernd durchlatschen. Die simple Umbenennung der Wagen brächte auch nichts; gebuchte Plätze entsprächen nicht mehr der gewünschten Wagenklasse. Festgelegte Reihung. Nichts zu machen.

Den Zug zu drehen, also ihn als ganzes Gebilde in seine richtige Reihung zu bringen, ist auch nicht so einfach, wie man es sich denkt: Drehfahrten sind nicht an jedem Bahnhof möglich und kosten Zeit. In Berlin müsste der Zug einmal um den Innenstadtring fahren, in Frankfurt am Main über Frankfurt-Louisa. Das dauert 30 Minuten, ehe der Zug wieder richtig steht. Um Verspätungen zu vermeiden, geht man den Kompromiss ein und lässt den Zug verkehrt herum fahren. Manchmal dreht er sich durch die nächste Störung wie von selbst in die richtige Reihung. Oder er muss gewartet werden – und wird in der Wartungshalle auf eine Drehscheibe gestellt. Allerdings hat nicht jede Wartungshalle eine solche Drehscheibe und nicht jede Stadt eine Wartungshalle.

Die Bahn-Mitarbeiterin, unsere Frau Schneider, wartet heute auf eine Rollstuhlfahrerin, der sie beim Ausstieg helfen muss. Um die Frau samt Rollstuhl aus dem Zug zu hieven, benutzt sie eine Rampe. Sie stehen an beiden Enden des Bahnhofs. Der Zug kommt verkehrt herum an, erst kurz vor der Einfahrt wird das bekannt. Frau Schneider muss nun sprinten. Sie fragt ihre Kollegen, ob die einen Rollstuhl gesehen haben, rennt weiter. „Die muss ja denken, ich hab sie vergessen. Dann steht sie da und kommt nicht aus dem Zug“, presst sie hervor. Sie findet die Frau. Rampe aufschließen, ran an den Zug, Rollstuhl auffahren lassen, Rampe absenken, Rollstuhl fährt ab. Geschafft. Das ging schnell, die Routine von 40 Jahren Arbeit bei der Bahn. Rollstuhlfahrer, Ältere, Eltern mit Kinderwagen seien besonders aufgeschmissen. Denen rät sie, wenn möglich immer in der Mitte des Bahnsteigs auf den Zug zu warten. So erspart man sich zumindest die Hälfte des Sprints auf dem Bahnhof, wenn der Zug verkehrt gereiht ist.