Hier bist du nie der Depp

Australien. Schließ die Augen und sag einmal: Australien – ein Traum von einem Land, in dem es noch Arbeit für alle gibt. Auch für Deutsche

AUS MELBOURNE MIA RABEN

Annett und Frank sitzen in der Nähe des pazifischen Ozeans unter dem Flachdach ihres neuen Mietshauses. An der Zimmerdecke surrt der große, weiße Ventilator. „Ich glaub, wir brauchen mehr Eis, wa, honey?“, sagt Annett. Frank steht von der ledernen Wohnzimmercouch auf und holt das Eis für die Wasserkaraffe. Es ist heiß an diesem Abend in Seaford bei Melbourne.

New York in Zeitlupe

Auf der Suche nach einem neuen Leben haben in Melbourne schon viele ihr Glück gefunden. Der junge äthiopische Taxifahrer und Nanotechnologiestudent zum Beispiel. Und die jüdischen Holocaust-Überlebenden, die seit Jahrzehnten in den Strandorten leben und unglaubliche Geschichten aus Europa erzählen können. Die allermeisten Einwanderer erfreuen sich täglich am Leben und sind stolz darauf, ein „Aussi“ zu sein. Es ist ein bisschen wie in New York, nur in Zeitlupe. Alle wirken entspannt. Autos hupen selten.

Und die Jahreszeiten stehen auf dem Kopf. Deswegen findet Annett ihren Obstgarten mit den Zitronen und Pfirsichen noch ein wenig merkwürdig. Vor einem guten halben Jahr haben sich die beiden von Oranienbaum bei Dessau verabschiedet. Die Arbeitslosigkeit liegt dort bei rund 20 Prozent. Jahrelang arbeitete Annett in der Sparkasse Gräfenhainichen und sah, wie es ihren Kunden immer schlechter ging. „Das war schrecklich. Ich wollte nur noch weg, weg, weg!“, sagt sie und drückt ihre Hand auf die weiche Rückenlehne.

Deutschland erlebt derzeit die größte Auswanderungswelle seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Über 150.000 Deutsche verließen im Jahr 2004 offiziell das Land. Die meisten Deutschen gehen, weil sie keine berufliche Perspektive sehen. Die wirtschaftliche Lage macht vielen Angst vor der Zukunft.

Die meisten Australier dagegen wirken völlig sorgenfrei. „Wir befinden uns in dieser konjunkturell heißen Phase der Höchstbeschäftigung. Australien ist eine Champagnerwirtschaft“, sagt Hans Henkell, der in den Achtzigerjahren nach einem Familienzwist über die zukünftige Leitung der berühmten Sektkellerei die Koffer packte. Er berät in Melbourne deutschsprachige Investoren in Immobilienfragen und verwaltet ihre Güter. Aus Liebhaberei betreibt er ein kleines, hübsch gelegenes Weingut im Yarra Tal. Dort kann man auch sehr gut essen und manchmal einer Opernsängerin lauschen.

Ein echter Australier verwöhnt sich eben gern. Er lebt den verführerischen „way of life“ des Genusses, die ewig beschwipste Fröhlichkeit in der gleißenden Nachmittagssonne. Nur wer die Gegenden jener Menschen, die vor der weißen Kolonisierung schon 40.000 Jahre hier gelebt hatten, besuchen geht, der sieht, wer zur großen Aussi-Party einfach nicht so recht passen will. In vielen Städten schleichen die Nachfahren der Ureinwohner Australiens, die Aborgines, wie bedrückte Geister durch die Straßen. Der Alkohol hat an vielen Orten des Kontinents ihre hoch differenzierte Kultur völlig zerstört.

Doch wer sich diese betrübliche Erfahrung nicht unbedingt antun will, der muss sich davon nicht belästigen lassen. Ein interessierter Tourist erfährt in den Museen nur wenig über die Misere der Aborigines. Und die meisten Australier sind zu Europäern so herzlich und hilfsbereit, dass es leicht fällt, das Elend völlig auszublenden und sich einfach im Rausch von Milch und Honig zu verlieren. Der Einwanderer versucht also, auf schnellstem Wege selbst zum Aussi zu werden. Annett parliert mit ihrem Kater Freddi bereits auf Englisch. Wenn sie Deutsch spricht, bringt sie hier und da gern eine englische Redewendung unter. Sie hatte Englisch in der Schule.

Ganz anders ihr Mann Frank, der sich die englische Sprache in mehreren Kursen für über 4.000 Euro mühsam erkämpfen musste. Da er aber gelernter Dachdecker ist, empfangen australische Baufirmen ihn mit Kusshand. Überall werden händeringend Handwerker gesucht. „Bevor wir ein Haus hatten, war ich schon angestellt“, sagt Frank. „Ich sagte: ‚Hello, I’m Frank from Germany‘ “, und der Bauunternehmer der Dachdeckerfirma Glen Amy Roofing Solutions notierte sogleich seine Telefonnummer. Zwei Tage später tüftelte Frank an einem australischen Kalkdach. Auch Annett fand schnell Arbeit, in einem Callcenter.

Deutsche Arbeiter haben einen guten Ruf in Australien. Sie gelten als zuverlässig und gut ausgebildet. Auch an den Universitäten werden gern Deutsche eingestellt. Harald Schmidt ist Professor und ein hünenartig groß gewachsener Mann. Er leitet das Institut für Pharmakologie der Melbourner Monash University. An seinem hellen Holzschreibtisch sitzend spricht er am Telefon mit einem Kollegen. Innerhalb von vier Minuten sagt er zweimal „perfect!“, einmal „great!“ und einmal „wonderful!“.

Hier in Australien, wo die Menschen einander am Arbeitsplatz loben und sich grundlos ein Lächeln zuwerfen, fühlt Harald Schmidt sich wohl. Auch dem elfjährigen Sohn Tim und Ehefrau Beate scheint es in Melbourne zu gefallen. Nur die vierzehnjährige Tochter Kimberley konnte in ihrer neuen Klasse mit den „bildungshungrigen Chinesinnen“, wie Schmidt erzählt, noch keine „Freundschaften ausbilden“.

Visionen erwünscht

Der ehemalige Professor der Universität Gießen sagt, er hätte in Deutschland die „Verfechter des Mittelmaßes, die ihren Besitzstand wahren wollen“, satt gehabt. „Ich bin nicht in die Forschung gegangen, um Beamter zu sein, sondern um etwas zu bewegen.“ Als er seinem Kollegen in Gießen von seinen Visionen auf dem Forschungsgebiet der Herz-Kreislauf-Erkrankungen erzählte, sagte dieser nur: „Wenn Sie Visionen haben, sollten Sie was einnehmen.“ In Melbourne angekommen, lautete die erste Frage des dortigen Unipräsidenten, seines neuen Chefs: „Harald, sag mir, welche Visionen hast du? Was willst du in den nächsten zehn Jahren erreichen?“ Da sei ihm „das Herz aufgegangen“, erinnert sich Schmidt.

Ihm gefällt auch, dass hier das Volk gemeinsam etwas erreichen will. „Die Australier sind stolz auf ihr Land, die sind richtig national. Die Kinder singen in der Schule die Nationalhymne, aber eben ohne dieses nationalsozialistische Element. Das ist uns aberzogen worden und das fehlt uns auch in Deutschland“, sagt er.

Das Loblied nimmt kein Ende. Mittags isst Schmidt Ruccola Salat mit Parmaschinken, nippt an seinem San-Pellegrino-Mineralwasser und ist froh, nicht mehr zwischen Stammessen eins und zwei wählen zu müssen. Vier junge deutsche Kollegen sind mit ihm nach Melbourne gegangen. „Die Frage ist doch: Wo kann ich mich besser entwickeln?“, sagt er.

Ärzte ohne Frust

Auf diese Frage fand der 33-jährige Berliner Assistenzarzt B.Z. irgendwann nur noch eine Antwort: „Nicht hier!“ In seinem Krankenhaus in Brandenburg verbrachte Z. bis zu 40 Prozent seiner Arbeitszeit mit Verwaltungsaufgaben: neue Verschlüsselungstechniken der Diagnosen, wirtschaftlich rentable Bettenbelegung, vorschriftsmäßiger Stationswechsel der Patienten. „Da wollten immer alle weg“, sagt er über seine ehemaligen Kollegen. Wenn er sich vorstellt, er müsste wieder zurück, bekomme er „Bauchschmerzen“.

Das vergangene Jahr hat er in der Notaufnahme und auf der Intensivstation des Frankston Hospitals bei Melbourne gearbeitet. Er will seinen Facharzt für Innere Medizin in Australien machen. Das Examen sei zwar viel schwieriger. „Aber hier habe ich das Gefühl, dass ich das werden kann, was ich werden will: Kardiologe. In Deutschland sind die meisten jungen Ärzte frustriert. Man arbeitet so viel und wird dann noch angeschrieen. Hier spreche ich mit meinem Chef über Medizin. Er ist noch nie laut oder indiskret geworden“, sagt er.

Auch die Arbeitszeiten sind humaner. Für 43 Stunden die Woche bekommt er genauso viel Gehalt bezahlt wie damals in Brandenburg – und das bei den gleichen Lebenshaltungskosten. Dort waren es manchmal 80 Stunden die Woche, davon gut 25 unbezahlte Überstunden. Z. bringt seine neuen Erfahrungen so auf den Punkt: „Du hast hier halt nie das Gefühl, dass du der Depp bist.“