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Dreimal täglich Fleisch

AUSWANDERER Hamburg war einst einer der wichtigsten Häfen für Menschen, die nach Amerika auswandern wollten. Das Thalia Theater erzählt davon in dem Stück „Bye Bye Hamburg“

Auf der Bühne werden Lebensläufe angerissen, verfolgt und fallengelassen

Paul Marcuse steht ein letztes Mal auf der Bühne des Hamburger Thalia Theaters. Es ist das Jahr 1940 und er spricht als Peer Gynt einen Monolog. Am nächsten Tag wird der jüdische Schauspieler mit einem der letzten Schiffe, das nach Amerika geht, Hamburg verlassen. Noch aber spricht er seinen Part, knarzend und die Silben überbetonend. Kein Schauspieler spricht heute mehr so, wie nun Peter Maertens den Paul Marcuse spricht.

Maertens spielt den Marcuse im Stück „Bye Bye Hamburg“, das derzeit im Thalia-Theater in der Gaußstraße zu sehen ist. Das Stück stammt von Regisseur Christopher Rüping, der im vergangenen Jahr am Thalia mit einer Theaterfassung von Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“ mehr als überzeugte.

Die Bühne in der Gaußstraße ist ein Gepäckdepot, ist eine Reihung aus Schiffswänden und verwandelt sich später in eine Bühne, auf der Marcuse, in Amerika angekommen, vorsprechen wird. Er braucht schließlich einen Job und außerdem muss ein Schauspieler spielen, wozu ist er sonst Schauspieler.

Ob es diesen Paul Marcuse wirklich gegeben hat, ist unklar. Seine Geschichte klingt glaubwürdig: In den USA habe er vor der Kamera in diversen Kriegsfilmen den Deutschen mimen müssen, denn er habe kein „th“ gekonnt und sei deshalb nur als Deutschen-Darsteller zu gebrauchen gewesen. Vorzugsweise mit Sätzen wie: „Jawohl, Herr Obersturmbannführer.“

Auf der Bühne werden Lebensläufe angerissen, verfolgt und fallengelassen, Lebensgeschichten ausgesponnen – so oder so ähnlich könnte es gewesen sein. Wie bei den drei Freundinnen, die sich in Hamburg als Dienstmädchen kennenlernen und die von den amerikanischen Männern schwärmen, die so unsagbar dick seien, denn da drüben in Amerika gäbe es dreimal am Tage Fleisch, dazu Pressefreiheit, Hollywood und nichts werde mühsam repariert, man kaufe sich alles neu.

Wunderbar farbig und exakt spielen Alicia Aumüller, Christina Geiße und Maja Schöne die drei Hoffnungssuchenden Marie, Wilhelmine und Louisa, deren Lebenswege sich entgegen allen Beteuerungen vor Ort schnell wieder trennen werden, während Pascal Houdus als junger, ungestümer Beau mal eben einen Lebenslauf in 100 Sekunden zum besten gibt: den von Fabian Brinkmann etwa, nur 1,47 Meter groß, ausgewandert nach Amerika, weil dort wahre Größe auch der erreichen kann, der daheim sehr klein ist.

Klugerweise verzichten Regisseur Christopher Rüping und sein Team darauf, im Stück einen Bezug zu den aktuellen Einwanderer und Auswandererbewegungen auch nur anzudeuten. Rüping vertraut vielmehr dem Theater und seinen Mitteln, zu denen das langsame, auch bruchstückhafte Entwickeln von Geschichten gehört, ohne sich je hetzen zu lassen.

So gelingt es ihm, auf der Grundlage seiner theatralischen Recherche einen Kosmos aus Stimmen, Impressionen, Bildern und auch Liedern zu zaubern, der eine Aufladung durch unmittelbare Zeitbezüge mitnichten benötigen.

Dass der heute 82-jährige reale Schauspieler Peter Maertens einst als kleiner Junge bei einem seiner ersten Besuche im Thalia Theater selbst einem gewissen Peer Gynt zusah und alsbald sein Leben dem Theater verschrieb, ist da sehr passend.  FRANK KEIL

Nächste Aufführungen: 5. 10, 20 Uhr; 6. 10., 19 Uhr; 21. 10, 19 Uhr

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