Ihr größter Tag

Beim heutigen Pokalhalbfinale gegen Bayern München steht der Regionalligist St. Pauli im Rampenlicht wie nie zuvor. Ein Wunder mehr am Hamburger Millerntor ist nicht ausgeschlossen

von JAN KAHLCKE

Kiez gegen Kommerz, David gegen Goliath – abgenutzter könnten die Bilder nicht sein vor diesem Halbfinale im DFB-Pokal. Und doch ist etwas dran. Der kleine FC St. Pauli, der es schon in seligen Bundesliga-Tagen zelebrierte, es den Millionären aus Stoiber-Land mal richtig zu zeigen, hat nach menschlichem Ermessen gerade die letzten Chancen auf den Aufstieg aus dem Jammertal Regionalliga Nord verspielt. Der FC Bayern ist ebenfalls angeschlagen, aber auf welchem Niveau! AC Mailand und SV Werder heißen die Stolpersteine für die Münchner, und das ist mehr als legitim.

Aber, Moment mal: Eben jener SV Werder, der die Münchner vor vier Tagen mit 3:0 nach Hause schickte, war es, der zuletzt im Pokal am Millerntor unter die Räder kam, mit 3:1. Natürlich kann man heute sagen: Es war das Wetter. Eis und Schnee ließen die Edeltechniker von der Weser ausrutschen. Aber wie erklärt man dann, dass die St. Paulianer Hertha BSC gar mit 4:0 abserviert hatten, bei regulären Platzverhältnissen?

Am Millerntor zu spielen, ist für die Großen ein Psycho-Ding. Eigentlich kann man sich nur blamieren auf dem kleinen Feld, das für Flügelläufe wenig Platz lässt; auf dem meist maroden Rasen, der eben nicht alle sechs Wochen neu ausgerollt und dazwischen von einem Heer von Greenkepern mit der Nagelschere gepflegt wird, wie in den großen Arenen. Gegen die namenlosen Fußballer, die Bolls, Adrions und Wojciks. Und gegen ein Publikum, bei dem der Wahnsinn Methode hat und das allein wegen der beengten Verhältnisse zusammensteht wie ein Mann, auch wenn darunter so viele Frauen sind wie nirgendwo sonst in Fußballdeutschland. Wenn sie den gefürchteten „Millerntor Roar“ anstimmen, kann nicht nur hart gesottenen Spielern angst und bange werden, sondern auch den Gelegenheitsfans, weil die Stimmkraft mindestens die vor fast zwei Jahrzehnten aufgestellte „provisorische“ Gegentribüne zum Beben bringt.

Können die Helden vom Millerntor es noch einmal schaffen? Ein weiteres Wunder gegen eine Übermacht? Sie haben es sich schon einmal selbst vorgemacht, am 6. Februar 2002. Damals waren sie Tabellenletzter der ersten Bundesliga und schlugen den frisch gebackenen Weltpokalsieger FC Bayern mit 2:1. Seither führen sie den inoffiziellen Titel des Weltpokalsiegerbesiegers in den Vereinsannalen.

Was für eine Wiederholung spricht? Vielleicht die Causa Kahn: Bayern-Offizielle wie Kommentatoren wurden nicht müde, Bundestrainer Jürgen Klinsmann zumindest eine Mitschuld für die bittere Niederlage in Bremen zuzumessen, weil er mit der Degradierung ins zweite Glied nicht nur den Torwart, sondern gleich die ganze Mannschaft verunsichert habe. Möge es so bleiben. Dann könnten die St. Pauli-Recken bald Ersatznationaltorwartbezwinger heißen.

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