„Die Leute würden es mögen“

STILLSTAND Seth Stevenson, Reiseschriftsteller, über Zeiten, in denen das Flugzeug einfach mal am Boden bleibt. Er sagt: „Die Welt ist kleiner, als wir uns vorstellen“

■ 35 Jahre alt, lebt in Washington D.C. und reist derzeit per Zug durch die USA, um aus seinem Buch „Grounded“ (Am Boden bleiben) zu lesen. Es erschien im April, bisher nur auf Englisch. Im Alltagsleben ist Seth Stevenson zudem ein preisgekrönter Reiseschriftsteller und Kolumnist der amerikanischen Zeitschrift Slate.

INTERVIEW REINER METZGER

? taz: Was Europa nun eine knappe Woche praktiziert hat, haben Sie freiwillig sechs Monate getan: ohne Flugzeug um die Welt zu reisen.

Seth Stevenson: Ja, stellen Sie sich vor: Es war ein tolles Erlebnis – Zug, Schiff, Bus, alles. Es wäre theoretisch sogar in 45 Tagen möglich gewesen, aber meine Freundin Rebecca und ich wollten keine Rekorde brechen, wir wollten reisen.

Wie lange dauerte es denn, bis Sie vom Alltagstrott loskamen?

Wir fingen an mit einem neuntägigen Trip über den Atlantik per Containerschiff. Zum ersten Mal im Leben kein Internet, ein irrer Sternenhimmel und ab und zu auf der Kommandobrücke der Mannschaft über die Schultern gucken; schon am Tag zwei waren wir in etwas ganz anderem als normalen Ferien.

Was halten Sie davon, wenn die ganze Welt einmal jährlich auf Flugzeuge verzichten würde?

Das ist ein Gedankenexperiment. Die Leute würden es wahrscheinlich mögen, wenn sie mal nicht per Luft zu ihrem Reiseziel unterwegs wären. Bei uns beiden war es so. Es ist lustiger und interessanter.

Was genau? Das wochenlange Schleichen am Boden entlang?

Ohne Flugzeuge dauert es natürlich länger. Aber Sie haben doch kein Gefühl für die Entfernung da oben in 10.000 Meter Höhe. Sie wollen nur möglichst schnell ankommen. Sie fühlen die Reise nicht bis in die Knochen. Am Boden ist das ganz anders, Sie waten durch die Dinge, ob schön oder ob nervig wie der stinkende Schnarcher auf einer Ostseefähre hinter Ihnen. Außerdem waren wir überrascht: Die Welt ist kleiner, als wir uns vorstellen, wir waren schneller in Tokio als gedacht. Die Welt ist auch intellektuell stärker miteinander verbunden, als wir denken, wir sind alle gar nicht so verschieden.

Wie kommen Sie darauf?

Weil wir auf der Reise viel mehr Menschen kennengelernt haben als per Flugzeug. Und das auch auf andere Weise, etwa mit dem Zug von Berlin nach Moskau: Da saßen wir mit zwei russischen Jungs im Abteil, wir tranken und plauderten. Die ganze Situation der tagelangen Reise auf den Schienen erleichtert das.

Was blieb denn von dem Trip? Sie haben ja danach nicht Ihre Arbeit und Ihre Freunde ausgetauscht.

Vor der Reise dachten wir, der größte Kulturschock würde vielleicht in Russland oder in Kambodscha auf uns zukommen. In Wirklichkeit war es aber der Moment unserer Rückkehr nach Washington. Wir waren schon fast süchtig nach der Bewegung, nach dem ständigen Reiz des Neuen. Und dann wieder tagtäglich in der gleichen Wohnung schlafen, den Briefkasten leeren, die Stammkneipen, der Job – es war eine brutale Neuausrichtung für mich. Ich musste erst wieder lernen, mich zu unterhalten – außerhalb der ständigen Bewegung.

Planen Sie schon den nächsten Langzeittrip? So viel Urlaub kann man sich ja nicht alle Jahre leisten?

Kommenden Sommer wollen wir ein oder zwei Monate nach Südamerika. Aber wir in den Vereinigten Staaten haben kein System mit so vielen Ferien wie Sie in Europa. Vielleicht ist der Vulkanausbruch aber auch für die europäischen Kurztripper ein Segen, einmal anders über das Reisen zu denken.