„Verstoßen aus dem Kreis der Polarlicht-Forscher“

Den vergessenen finnischen Wissenschaftler Karl Selim Lemström hat Oliver Kochta-Kalleinen für die Kunst entdeckt. Seine Ausstellung in Hamburg zeigt: Mit seiner Theorie lag der Professor aus Helsinki zwar daneben – aber gerade das verleiht seinen Untersuchungen besonderen Reiz. Ein Gespräch über Lichtschleier, Ausströmungsapparate – und ein wissenschaftshistorisches Unrecht

Interview: Christian T. Schön

taz: Wie sind Sie auf Karl Selim Lemström gestoßen?

Oliver Kochta-Kalleinen: Das war 1995/96 im finnischen Lappland, auf dem Berg namens Kehäpää. Dort fand ich Überreste einer merkwürdigen Konstruktion aus Holz. Ein Buch über Nordlichter brachte mich später auf die Spur von Lemström. Mir wurde klar, dass die alten Holzteile Überreste von dessen Nordlichtgenerator sein müssen.

In der Ausstellung fallen vor allem die Reproduktionen von Polarlicht-Erscheinungen ins Auge …

Sie stammen aus der Polarlicht-Literatur des 19. Jahrhunderts. Auch aus Lemströms „Über das Polarlicht“ von 1886. Als junger Mann hat Lemström in Spitzbergen 1868 zum ersten Mal ein Nordlicht gesehen. Das war ein gewaltiges Erlebnis für ihn. Diese natürliche Lichterscheinung war damals noch voller Rätsel, und Lemström beschloss, das Geheimnis zu lüften. Für einen jungen Physiker eine große Herausforderung. Aber er spürte, dass er da an etwas ganz Großem dran war.

Wie hat er die Lichter erklärt?

Er war überzeugt, dass die Nordlichter eine Entladung waren, ein elektrischer Vorgang. Wie ein Blitz, nur langsamer. Seine Maschine, die er „Ausströmungsapparat“ nannte, war in seinen Augen eine Art Verstärker, der ein natürlich vorkommendes Phänomen auf engen Raum konzentrierte und dadurch sichtbar machte. Ob er aber wirklich Lichter erzeugt hat, wissen wir nicht. Wenn, waren sie sehr schwach. Nordlichter waren es bestimmt nicht, denn die ereignen sich erst in hundert Kilometer Höhe.

Was haben denn die anderen Wissenschaftler an seiner Seite beobachtet?

Die haben seine Ergebnisse bestätigt. Aber das waren alles seine Assistenten. Und die verwendeten eine sehr zweifelhafte Technik. Sie „schielten“ – das heißt: Sie haben das Phänomen aus dem Augenwinkel beobachtet, weil dann das schwache Licht auf den sensibleren Bereich der Netzhaut fiel…

Gibt es denn keine Fotos?

Es gibt nur die Zeichnungen und Lithographien. Die fotografischen Platten der Zeit waren nicht empfindlich genug.

Heißt das, er hat Ergebnisse verfälscht?

Er hat da sicherlich überinterpretiert. Aber er hatte ein Gespür für das Spektakuläre. Aus hundert Stunden Himmelsobservation wählte er das absurdeste Polarlicht aus, eins mit Lichtschleifen und -wirbeln. Ich kenne niemanden, der so ein Polarlicht in Wirklichkeit beobachtet hat.

Hat er sich da vielleicht über die wissenschaftliche Akkuratesse lustig gemacht?

Nein, Ironie lag ihm fern. Es ging ihm wirklich darum, seine Forschung zu legitimieren und neue Forschungsgelder aufzutreiben. Er war überzeugt, sein Apparat funktioniere und er müsse das Experiment nur noch einmal mit besserer Ausrüstung und an einem anderen Ort wiederholen. Mit Erfolg: Die finnische Wissenschaftsgesellschaft finanzierte seine Expeditionen nach Inari, Sodankylä und Kultala. Er baute immer größere „Ausströmungsapparate“. Und seine Theorien wurden in Nature veröffentlicht.

Was braucht man, um ein Nordlicht zu beobachten?

Man braucht Geduld. Im Winter 2001/02 habe ich für drei Wochen in einer verlassenen Goldgräberhütte in Kultala gelebt und nachts bei minus 35 bis minus 20 Grad Polarlichter fotografiert. In derselben Hütte hatte Lemström 1883/84 seine Forschungsstation eingerichtet. In den Wänden waren noch die Bohrlöcher für Telefondrähte. Einmal habe ich vier Stunden gewartet, bis sich ein Nordlicht gezeigt hat. In dem Moment zog eine Schneewolke vor den Himmel. Ich war traurig und frustriert. Das Selbstporträt, das ich in der Ausstellung zeige, habe ich in diesem Schneetreiben gemacht.

Das Foto zeigt Sie im Dunklen, das Gesicht von unten mit einer Taschenlampe angeleuchtet – es wirkt übertrieben ernst. Daneben ein Porträt von Lemström. Ist das eine Persiflage?

Ja, vielleicht. Natürlich, klar: Ich habe mich mit der Zeit immer mehr als sein Assistent gefühlt. Der noch mal die Geschichte aufrollt und dem vergessenen Wissenschaftler zu Ruhm und Ehre verhilft. Wenn man dieselben Orte besucht und der Person hinterherreist, dann verweben sich die Biographien von beiden. Ich bin schließlich auch wegen Lemström in Finnland gelandet. Ich lebe in Helsinki und bin mit einer Finnin verheiratet. Das finnische Fördersystem für Künstler ermöglicht es mir, von meiner künstlerischen Arbeit zu leben. Mir war es wichtig, diese biographischen Elemente, vor allem die Reisen an die authentischen Orte, in die Ausstellung einzubeziehen. Sie sollte keine streng wissenschaftliche Dokumentation sein, aber ein Historiker soll sie schon ernst nehmen können.

Warum ist Karl Selim Lemström heute vergessen?

Nach dem „Ersten Internationalen Polarjahr“ von 1882/83 ging es mit Lemströms Karriere bergab. Seine Forschungsergebnisse hielten der wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Er wurde aus dem Kreis der Polarlicht-Forscher verstoßen und ignoriert. Eine Zeit lang sah es noch so aus, als könnte er mit dem „Ausströmungsapparat“ die Landwirtschaft revolutionieren –er hatte das Wachstum von Gemüse unter dem Einfluss von „Nordlicht“ erhöht –, aber dann kam der künstliche Dünger auf den Markt.

„Nordlicht und die Elektrifizierung der Landwirschaft“, Galerie für Landschaftskunst, Hamburg. Bis 20. Mai. Infos: www.gflk.de