: Tanz auf dem Boden der Tatsachen
JERUSALEM Trotz Unruhen in der Altstadt, Checkpoint-Sperren und Steinwürfen – auch im immer religiöser werdenden Jerusalem wird getanzt. Abends trifft eine kleine linke Szene auf Clubber und internationale Gäste
VON LEA HAMPEL
Maytal schüttelt ungläubig den Kopf. „Diese Stadt macht mich verrückt“, sagt sie. Gerade hat sie gesehen, dass hier, vor einer ihrer Lieblingsbars, dem Sira in Jerusalem, ein Sicherheitsmann sitzt, der gelangweilt die Taschen der Gäste abtastet. Bisher hat sie es anscheinend übersehen oder absichtlich verdrängt.
Maytal geht ungern in Läden, wo man die Gäste beschützen zu müssen glaubt; in Restaurants weigert sie sich, die Sicherheitsausgaben auf der Rechnung zu zahlen. Maytal ist 24 Jahre alt, in Jerusalem geboren. Fast vier Jahre hat sie in Tel Aviv gelebt. Obwohl Jerusalem sie oft deprimiert, ist sie zurückgekehrt, um zu studieren. „Ich habe die Stadt vermisst, ihre Realität.“ Es ist eine eigene Realität, genau besehen gibt es mindestens zwei, eine tagsüber und eine nachts. Tagsüber ist Jerusalem die Stadt der Pilger, in der orthodoxe Juden zur Klagemauer trippeln und Muezzinrufe ertönen, die leiern, weil die Kassetten so alt sind, die Stadt, in der Touristen hinter Stadtführern herlaufen.
Die andere Realität beginnt mit Einbruch der Dunkelheit. Der Puls der Stadt wird dann nicht mehr von Kirchenglocken, Sabbatsirenen und Gebetsrufen vorgegeben, die von den jüdischen, muslimischen und christlichen Paralleluniversen erzählen, sondern als Mischung aus dem Musical „Hair“, irischer Folkmusik und elektronischen Beats. Jerusalems Zentrum rutscht nachts von Ost nach West. Eine kleine, aber aktive linke Szene trifft dann in der mit knapp 800.000 Einwohnern nicht kleinen, aber doch eher provinziellen Stadt auf internationale Gäste.
Halber Liter für 3 Euro
Es ist Freitagabend, der Sabbat hat begonnen in einer der kleinen Seitenstraßen der Neustadt, dem israelischen Teil Jerusalems. Im orangefarbenen Laternenlicht ragen aus dem Sandstein der Hauswände leuchtende Werbeschilder für Biersorten aus Irland und Deutschland, der halbe Liter für 3 Euro. Der Außenbereich des einen Pubs geht nahtlos in den des nächsten über, noch wärmen Heizstrahler die Vorzelte. Betrunkene US-Amerikanerinnen sitzen auf dem Bordstein und reden über ihren Tag am Toten Meer. An ihnen vorbei ziehen zwei junge Männer, die mit Wiener Akzent über ihre Arbeit im österreichischen Hospiz sprechen. Es könnte ein spanischer Küstenort sein, wären da nicht die zwei Soldaten. Beide in grüner Uniform, die eine Hand am Gewehr, in der anderen Hand einen Pappbecher mit Kaffee. Die Lokale bieten für jeden etwas: Es gibt Houseclubs wie das Bass, Indiebars wie die Kellerkneipe Kaseta, Pubs wie das HaTaklit, Bars, in die vor allem Studenten gehen, wie das Zazua, und verrauchte Kneipen wie das Putin, in dem russische Einwanderer trinken.
Das Sira liegt etwas abseits von den Pubs. Die Kneipe hat einen dunklen Innenhof mit Tischen, an denen Deutsch, Englisch und Polnisch gesprochen wird, einen Tresen, auf dem Paulanergläser stehen, und eine Tanzfläche, auf der arabische Männer Studentinnen bezirzen. Hier sitzt Maytal und redet über ihr Jerusalem. „Ich brauche keine Blase, in der alles easy ist, wie Tel Aviv. Ich will nah dran sein an dem, was passiert.“ Nähe ist da weniger die geografische Nähe zu palästinensischen Städten wie Ramallah und Hebron. Nähe heißt: Am Tag geht Maytal in der Ostjerusalemer Salaheddinstraße Kaffee kaufen und versucht, ihre Arabischkenntnisse anzuwenden. Freitags geht sie gelegentlich nach Sheikh Jarrah, zu Demonstrationen gegen jüdische Siedler in arabischen Stadtteilen. Und abends: geht sie aus.
Die letzten Wochen in Jerusalem könnte man so zusammenfassen: Die israelische Polizei stürmt mehrfach den Tempelberg, die Palästinenser dürfen das Westjordanland tagelang nicht verlassen, die Welt regt sich über Neubauten im Osten der Stadt auf. Oder so: Jerusalem tanzt und trinkt. Erst Semesteranfang, dann Purim, eine Art jüdischer Fasching, dann St. Patrick’s Day. Während der Unruhen in der Stadt hat nicht nur Maytal Nachrichten von der Uni bekommen. Auch Emelie aus Schweden, 24 Jahre alt, bekam eine E-Mail: „Aufgrund Befürchtungen der Polizei bezüglich eskalierender Spannungen in Jerusalems Altstadt empfehlen wir Studenten, von einem Besuch dort in den nächsten Tagen abzusehen.“ Gestern kam wieder so eine Nachricht. Emelie sitzt im Dublin, einem Pub mit Holzvertäfelung und Fußballleinwänden. Vor acht Stunden steckte sie noch am Checkpoint fest. Auf ihrem Rückweg von einem Bewerbungsgespräch in Ramallah flogen plötzlich Steine, und israelische Soldaten antworteten mit dem Einsatz von Tränengas. Als vor ihren Füßen etwas landete, was wie eine Granate aussah, flüchtete sie in einen Schulbus. Wenn sie jetzt, nach dem vierten Guinness, daran denkt, kann auch sie nur den Kopf schütteln. „Mein erster Drink heute Abend kam mir vor wie in einem Videospiel, nicht real.“
Emelie lebt seit letztem Sommer hier, lernt Hebräisch und Arabisch. Anfangs hatte sie mehr Angst, sagt sie. Eine Situation wie heute hatte sie nie erlebt – vom Ausgehen hat es sie nicht abgehalten, im Gegenteil. Hier in Jerusalem, ist sie überzeugt, kann man leichter interessante Menschen kennenlernen als in Tel Aviv, „wo es zwar mehr Bars gibt – aber die Leute alle ähnlich sind“. In dieser Stadt, in der aus religiösen Gründen am Wochenende keine Busse fahren, gibt es am Abend eine Menge Erlebnishungriger. Anders sein, das heißt, dass sich in den Bars und Clubs Studenten aus Budapest und München treffen. Und es heißt auch, dass im Bass drei Straßen weiter schon mal ein lebensgroßes Tiger-Werbemaskottchen neben einem Orthodoxen mit Schläfenlocken an der Bar auf das Bier wartet.
Dass der Messias kommt
Im Vergleich zum legendären Clubleben im 65 Kilometer entfernten Tel Aviv gilt Jerusalem als konservativ. Dabei gibt es hier Orte wie das Uganda, eine kleine Bar mit 60er-Jahre-Möbeln, tagsüber Plattenladen, abends ein bisschen Berlin im Nahen Osten. Dorthin geht es durch die Fußgängerzone – vorbei an einer Gruppe christlicher Koreaner, die Lieder singen und hoffen, dass der Messias schneller kommt, wenn sich alle im Heiligen Land versammeln. Und vorbei an einem Kunsthappening. In einer Gasse steht eine junge Frau, kurzer Rock, hohe Schuhe, blondierte Haare. Sie schaut ernst in die Kamera. „Noch mal“, ruft der Fotograf, sie hält das Bild, mit dem sie posiert, weiter in die Kamera. Darauf: der lächelnde Gilad Schalit, der entführte Soldat, dessentwegen Israel den Gazakrieg geführt hat.
Das ist Jerusalem: hier die kleine Bar, um die Ecke die große Politik. Während es in Tel Aviver Szeneclubs leicht ist, zu vergessen, was für ein Land das ist, fällt das im Bass in Jerusalem schon schwerer. Zwei Kreuzungen ist der ultraorthodoxe Stadtteil Mea Schearim entfernt, von der Dachterrasse aus ist zu sehen, wie ein Religiöser mit traditionellem osteuropäischem Hut den Kinderwagen durch die Nacht schiebt. „In Jerusalem liegt etwas in der Luft“, sagt Kvir. Der 28-jährige Israeli macht eine Ausbildung zum Krankenpfleger im Stadtteil Ein Kerem. Er stammt aus der Nähe von Tel Aviv, geht aber lieber hier aus. Gleich wird Tama Sumo, DJane aus der Berliner Panoramabar, auflegen. Der Auftritt ist Teil der Pacotek, einer Partyreihe, die in Jerusalem in den 90ern entstand. Mittlerweile gibt es Veranstaltungen auch in Haifa und Tel Aviv – dennoch gilt die Pacotek als Beweis für eine lebendige Jerusalemer Untergrundszene. An diesem Abend sind etwa 100 Leute da. Tama Sumo legt zum dritten Mal in Jerusalem auf. „Die Leute gehen aus, aber sie sind mehr auf dem Boden der Tatsachen als in Tel Aviv“, ist ihr Fazit. Das meint auch Maytal: „In Jerusalem gehst du tagsüber demonstrieren und abends aus. In Tel Aviv, da gehst du nur aus.“ Gerade sind zum achten Mal an diesem Freitag Abend Sirenen zu hören. Angst hat Maytal keine. „Es kann überall etwas passieren“, glaubt sie. Darauf könne man auf zwei Arten reagieren: „Entweder man denkt sich, dass wir strengere Sicherheitsmaßnahmen brauchen. Oder man kapiert irgendwann, dass wir eine andere Form der Kommunikation benötigen.“ Bis dahin tanzt sie weiter.
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