Von einer Zeit, in der jeder, der tötet, glaubt, er diene Gott

BERICHT DER OLGA W., TOPOGRAFIN, 24 JAHRE, AUS DEM GEORGIENKRIEG

AUFGEZEICHNET VON SWETLANA ALEXIJEWITSCH (WEISSRUSSLAND)

Frühjahr 1992 … Die Strandsaison begann … Die ersten Beeren … Mutter und ich kochten Kompott und Konfitüre ein. Bereits im Juni gab es in der Stadt kein Brot mehr zu kaufen. An einem Samstag beschloss Mutter, sich mit Mehl einzudecken …Wir erreichen den Basar, und eine Menschenmenge kommt uns entgegen, die Menschen fliehen voller Angst. Große Federn fliegen herum … Kaninchen laufen vor unseren Füßen herum … Enten … Von den Tieren wird nie gesprochen … davon, wie sie leiden … Aber ich erinnere mich an eine verwundete Katze … Und wie ein Hahn schrie, unter seinem Flügel steckte ein Splitter … Und dann – ein Schrei! Da schrie eine Menge. Irgendwelche Bewaffneten ohne Uniform, aber mit Maschinenpistolen liefen den Frauen nach, nahmen ihnen die Handtaschen und die Sachen weg. „Sind das Kriminelle?“, flüsterte meine Mutter mir zu. Wir stiegen aus dem Bus und entdeckten russische Soldaten. „Was ist das hier?“, fragte meine Mutter sie. „Begreifen Sie das denn nicht?“, antwortete ein Leutnant. „Das ist Krieg.“

Diese Bilder … Ein Schiguli kam uns entgegen … Wir winkten, wollten ihn anhalten. Der Wagen fuhr ganz langsam an uns vorbei, wie bei einer Beerdigung. Vorn saßen ein junger Mann und ein Mädchen, hinten lag die Leiche einer Frau … Direkt am Meer – noch ein Schiguli: die Windschutzscheibe zerbrochen … eine Blutlache … Frauenschuhe liegen herum … (Sie schweigt.) Plötzlich ein Dröhnen … Grüne Militärhubschrauber … Und unten … Ich sah Panzer, sie fuhren nicht in geordneter Formation, sondern einzeln, auf den Panzern saßen Soldaten mit Maschinenpistolen. Georgische Fahnen wehten. Die Kolonne bewegte sich ungeordnet: Manche Panzer bewegten sich schnell voran, andere hielten vor Geschäften an. Die Soldaten sprangen herunter und zerschlugen mit ihren Kolben die Schlösser. Sie nahmen Sekt, Konfekt, Cola und Zigaretten. Zu Hause rannten wir sofort zum Fernseher … Da spielte ein Sinfonieorchester. Und wo war der Krieg? Im Fernsehen wurde der Krieg nicht gezeigt …

Die Mutter des toten Jungen verlor den Verstand

Nach ein paar Tagen begrub unsere ganze Straße Achrik … Achrik … Ein abchasischer Junge. Er war neunzehn Jahre alt. Er war am Abend zu seinem Mädchen gegangen – und mit einem Messer in den Rücken getötet worden. Seine Mutter lief hinter dem Sarg: Sie weinte, dann drehte sie sich plötzlich um – und lachte. Sie hatte den Verstand verloren. Einen Monat zuvor waren wir noch alle sowjetisch gewesen, und nun – Georgier – Abchase … Abchase – Georgier … Russe … In der Parallelstraße lebte ein anderer Junge … Ich kannte ihn natürlich, nicht beim Namen, aber vom Sehen. Wir grüßten uns immer. Ein ganz normal wirkender Junge. Groß, schön. Er hat seinen alten Lehrer getötet – einen Georgier, er hat ihn getötet, weil der ihn in der Schule in Georgisch unterrichtet hatte. Ihm schlechte Zensuren gegeben hatte. Was ist das? Können Sie das etwa verstehen? In der sowjetischen Schule lernte jeder: Der Mensch ist des Menschen Freund … Freund, Kamerad und Bruder … Ich knie stundenlang in der Kirche. Dort ist es still … obwohl dort jetzt oft viele Menschen sind, und alle beten nur um eines …

Ich ging oft in die Kirche … und dort redete ich … und redete … Jeden, dem ich auf der Straße begegnete, hielt ich an. Mutter setzte sich neben mich, hörte zu, und plötzlich sah ich – sie schläft, sie war so erschöpft, dass sie unvermittelt einschlief. Sie wäscht Aprikosen – und schläft. Und ich war wie aufgezogen … ich erzählte und erzählte … was ich von anderen gehört … und was ich selbst gesehen hatte …

Moskau! Moskau … Zwei Wochen habe ich auf dem Bahnhof gelebt … Menschen wie ich … wir waren Tausende … Auf allen Moskauer Bahnhöfen – auf dem Weißrussischen, dem Sawjolowoer, dem Kiewer … Ganze Familien, mit Kindern und Alten. Aus Armenien, aus Tadschikistan … aus Baku … Sie kampierten auf Bänken, auf dem Fußboden. Dort kochten sie auch Essen. Wuschen Wäsche. Auf den Toiletten gibt es Steckdosen … und an den Rolltreppen auch … Wasser in eine Schüssel, einen Tauchsieder rein, ein paar Nudeln, Fleisch … Fertig ist die Suppe! Mir scheint, alle Bahnhöfe in Moskau riechen nach Konserven und Reissuppe. Nach Plow. Nach Kinderurin und schmutzigen Windeln. Die trockneten überall auf Heizkörpern, an Fenstern. „Mama, wohin fahre ich?“ „Du fährst nach Hause. Nach Russland.“ Nun war ich also zu Hause.

■ Die im weißrussischen Minsk lebende Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, geboren 1948, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und im Oktober 2013 bekommt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sie erlebte aber auch zahlreiche Repressionen. Wegen ihres Buches „Zinkjungen“, das den sowjetischen Afghanistankrieg behandelt, wurde sie wegen „Besudelung der Soldatenehre“ angeklagt. Ähnliches widerfuhr ihr mit dem Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, das die Schicksale sowjetischer Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg behandelt. Von 2008 bis 2010 war sie im Writers-in-Exile-Programm des PEN. Der Text ist ein stark gekürzter Ausschnitt aus ihrem Buch „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“, erschienen 2013 bei Hanser Berlin, übersetzt von Ganna-Maria Braungardt.