: Am Anfang ist das Wort
LESEPATEN Sie kommen in die Schulen und lesen Grund- und Sekundarschülern mit Migrationshintergrund aus Büchern vor. 2.000 Freiwillige helfen Kindern, sich die deutsche Sprache zu erschließen
VON OLE SCHULZ
„Ist das was zum Essen?“, fragt der Schüler. Nein, das Wort „Martin“ sei ein Name und werde darum groß geschrieben, antwortet Renate Schmidt geduldig. Eigentlich geht es anhand schriftlicher Beispiele um Klein- und Großschreibung, aber Schmidt muss zunächst die Bedeutung mancher Wörter erklären, weil sie den Schülern unbekannt sind.
Vorlesen und fragen
Renate Schmidt ist Lesepatin an der Wedding-Grundschule nahe dem Leopoldplatz, eine deutliche Mehrheit der Schüler hat hier einen Migrationshintergrund. „Viele der Kinder reden mit ihren Eltern zu Hause kein Deutsch.“ Seit acht Jahren kommt die heute 70-jährige Rentnerin zweimal in der Woche an die Schule, um mit den Kindern außerhalb der Klasse in kleinen Gruppen oder auch einzeln Lesen und Schreiben zu üben. Mal liest sie eine Geschichte vor, um anschließend Fragen dazu zu stellen, mal lässt sie die Kinder das letzte Wort von Sprichwörtern oder Schüttelreimen erraten.
Schmidt ist eine von immerhin 32 LesepatInnen an der Wedding-Grundschule. Vermittelt wurden diese ehrenamtlichen Helfer durch das Lese- und Lernpatenprogramm des Bürgernetzwerks Bildung des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI). Im Jahr 2005 auf Initiative der ehemaligen grünen Bildungssenatorin Sybille Volkholz ins Leben gerufen, gibt es mittlerweile rund 2.000 Freiwillige, die über das Bürgernetzwerk an Berliner Kindergärten und Schulen als Lese- und Lernpaten tätig sind. An der Wedding-Grundschule seien es überwiegend Rentner, sagt Renate Schmidt, aber es gebe auch Berufstätige und angehende Studenten.
In Kindergärten helfen die Paten in erster Linie beim Spracherwerb, in Grundschulen dagegen vorrangig beim Lesen, während sie in Sekundarschulen meist die Lehrer dabei unterstützen, den Unterrichtsstoff zu vermitteln. „Wir suchen grundsätzlich für alle drei Bereiche Interessierte“, sagt Lydia Herz vom Bürgernetzwerk Bildung. Besonders schwer sei es, geeignete Personen für die Sekundarschulen zu finden. Diese müssten sich nicht nur auf eine besondere Altersstufe einstellen, sondern auch in der Lage sein, über die Leseförderung hinaus im Unterricht zu helfen.
Wer Zeit und Lust hat, Lese- und Lernpate zu werden, wird zunächst vom Bürgernetzwerk zu einem Informationstreffen zum gegenseitigen Kennenlernen eingeladen und muss dann ein für Ehrenamtliche kostenloses erweitertes Führungszeugnis beantragen. Wichtig sei, so Herz, dass man sich zunächst für ein Jahr verbindlich verpflichtet, zwei bis drei Stunden vormittags an einer Schule und in einem Bezirk seiner Wahl zu verbringen. Voraussetzung von schulischer Seite ist hingegen, dass dort mindestens 40 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund haben oder aus sogenanten lernmittelbefreiten Haushalten kommen.
An der Wedding-Grundschule werden diese Kriterien erfüllt, über 90 Prozent der Schüler sind dort „nicht deutscher Herkunft“ und ihre Deutschkenntnisse häufig unzureichend. Deshalb freut man sich über die Hilfe von außerhalb. „Die Lesepaten sind eine große Unterstützung“, sagt Ulrike Kempf, Erzieherin an der Wedding-Grundschule. Weil die Vorschule „wegsaniert“ wurde, kämen die Kinder heute oft unvorbereitet in die erste Klasse, sagt Kempf. Auch das neue jahrgangsübergreifende Lernen in der zweijährigen „Schulanfangsphase“ habe Tücken, weil die Lehrer sich in überfüllten Klassen nun mit Schülern unterschiedlicher Leistungsniveaus auseinandersetzen müssten. Die Lesepaten könnten sich dagegen „auf spielerische Weise individuell um die Kinder kümmern“, sagt Renate Schmidt. „Das ist den Lehrern beim Unterricht im Klassenverband gar nicht möglich.“ Manche Schüler nimmt Schmidt zum Lesen einzeln aus der Klasse heraus. „Wenn ich mit ihnen allein bin, können sie Fehler machen, ohne dass sie von anderen ausgelacht werden.“
Über die Bildungspolitik des Senats will sich Lesepatin Schmidt nicht beschweren. Denn „das bringt uns nicht weiter“, zumal viel unternommen werde. „Es gibt an der Schule auch Deutschkurse für die Eltern.“ Allerdings werde das Angebot nur unzureichend wahrgenommen. Schmidt hält es daher für überlegenswert, die kostenlose Teilnahme für Eltern mit Deutschdefiziten verpflichtend zu machen.
Cornelia Dörries kennt diese Problemlagen gut. Sie ist ebenfalls an einer Weddinger Schule als Lesepatin aktiv. Nach Dörries’ Eindruck sind bei den Kindern mit Migrationshintergrund „die Begabungen und das Leistungsvermögen genauso verteilt wie bei denjenigen, die Deutsch als Muttersprache erlernt haben“. Nur scheiterten Erstere oft an ihren schlechten Deutschkenntnissen.
Der Einfluss der Eltern
Dörries empfindet es dabei als Ungerechtigkeit, dass Schule heute in der Regel nur durch die Unterstützung der Eltern zu bewältigen sei. „Der Einfluss der Eltern und ihrer sozialen Netzwerke ist entscheidend.“ Kindern aus bildungsnahen Familien könne zum Beispiel bei schwierigen Hausaufgaben in der Familie geholfen werden, weshalb Dörries das heutige Bewertungssystem generell infrage stellt. „Eigentlich müsste auch die Unterstützung der Eltern mit bewertet werden.“ Solange sich das nicht ändert, will Dörries mit ihrem ehrenamtlichen Engagement weitermachen. Auch Renate Schmidt hat ihre Tätigkeit als Lesepatin „noch keine Sekunde bereut“, und sie will damit fortfahren, solange sie dazu geistig und körperlich in der Lage ist. Dafür bekomme sie auch viel von den Kindern zurück. „Wenn ich einigen helfen konnte, bin ich zufrieden.“
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