VOM TOURI LERNEN
: Hier lebt der Führer

Dass jemand „der Führer“ sagt, habe ich lange nicht mehr gehört. Und wenn überhaupt, dann im Film

„Anhalter Bahnhof“, sagt der Herr in der S-Bahn im Vierersitz neben meinem. „Hier gleich ist das Jüdische Museum.“

Ich dachte immer, das Jüdische Museum sei weiter rechts, U-Bahnhof Kochstraße, aber na ja. Ich bin kein Touri und er schon, daher weiß er das sicherlich besser als ich. Und sowieso, er sagt das nicht zu mir, er sagt das zu seinen Begleiterinnen. Frau, Tochter, Freundin der Tochter, auf den ersten Blick. Mehr als einen ersten Blick kriegen sie erst mal nicht von mir, ich bin zu beschäftigt mit Überlegen: Ist das Jüdische Museum wirklich direkt am Anhalter Bahnhof?

An der nächsten Station höre ich auf, darüber zu grübeln, denn der Herr sagt was Neues, was mir auch nicht so recht in den Kopf hinein will: „Und hier hat sich der Führer erschossen.“ Ich schaue raus, Potsdamer Platz. Aber diesmal irritiert mich nicht der Ort, sondern das „der Führer“. Dass jemand „der Führer“ sagt, habe ich lange nicht mehr gehört. So lange, dass ich gar nicht weiß, wann genau, und ob überhaupt irgendwo, außer im Film. Irritiert schau ich rüber zu den vieren. Er redet schon weiter. „Der wohnte am Wasserturm“, sagt er gerade. Wer, weiß ich nicht. Er hat’s bestimmt gesagt, aber da blockierte sein „der Führer“ noch mein Gehirn. „Der Wasserturm“, spricht er weiter, „ist am Humboldthain.“

Bis jetzt dachte ich, der Turm dort sei ein Flakturm, aber na ja. „Humboldthain?“, fragt die Frau. „Hat er nicht in Prenzlauer Berg gewohnt?“ Wer, weiß ich immer noch nicht, aber in Prenzlauer Berg gibt’s einen Wasserturm, das weiß ich mit Sicherheit. Am Kollwitzplatz.

„Ach so, ja“, macht der Mann. „Natürlich. Aber es war was mit H.“ Er grübelt ein bisschen und gibt dann bekannt: „Helmholtzplatz! Da steht der Turm.“

Jetzt bin ich vollkommen irritiert, aber zum Glück muss ich raus. Zum Glück – wer weiß, was ich sonst noch gelernt hätte über Berlin. JOEY JUSCHKA