Das Testament ist eröffnet

Zum Weltkulturerbe erklärte Stätten und Kulturgüter ziehen viele Besucher an. Doch das Unesco-Label hat auch Schattenseiten: Dann, wenn die Bewohner gleich mit- oder wegkonserviert werden

VON ANNE MEYER-RATH

In den vergangenen drei Jahrzehnten ist eine neue Form des Reiseziels entstanden: die „Welterbe-Stätte“ – ein von der Unesco als besonders bedeutend und schützenswert ausgezeichnetes Monument, Stadtensemble, Natur- oder Kulturgebiet.

Das Konzept der Welterbestätte basiert auf der 1972 von der Unesco verabschiedeten „Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“, die zum populärsten Instrument der Organisation geworden ist. 180 Staaten haben die Konvention ratifiziert, was sie zu einem der wenigen wirklich global angewendeten Rechtsinstrumente macht. Die Auszeichnung ist derweil geradezu synonym mit dem geworden, was gemeinhin unter „Welterbe“ verstanden wird. Seit 1978 haben 812 Stätten das Unesco-Label erhalten, und die meisten von ihnen verzeichnen wachsende Besucherzahlen. Das ist für viele Segen und Fluch zugleich – Segen, weil sie Einnahmen aus Eintrittsgeldern bringen, die der Erhaltung dienen, und Fluch, weil viele Schäden an Gebäuden, Wegen und Landschaft erst durch den Besucherandrang entstehen. Dennoch scheint die Auszeichnung insgesamt ein hilfreiches Mittel darzustellen, wenn es darum geht, andernfalls bedrohten Bauten besser zu schützen.

Bedenklicher wird es, wenn Welterbe-Stätten eng mit dem Lebensraum der dort ansässigen Menschen verbunden sind und diese aufgrund der Unesco-Auszeichnung und des folgenden Touristenandrangs ihre bisherigen Lebensweisen nicht mehr fortsetzen können, „mitkonserviert“ werden oder der touristischen Infrastruktur weichen müssen, wie dies in der „Beduinenstadt“ Petra in Jordanien, Welterbestätte seit 1985, geschehen ist. Hier kann der Weltkulturerbe-Status und der damit einhergehende Tourismus zum wirklichem Nachteil für die Bevölkerung werden. Auch Kulturlandschaften, die seit 1992 als Welterbe gelten, kennen die schwierige Balance: Wie weit kann man in der Erhaltung von Landschaft gehen, ohne die Entwicklungsmöglichkeiten der Bewohner und Bewahrer ebendieser Landschaft einzufrieren?

Was aber geschieht unter dem Einfluss von Tourismus mit jenem Welterbe, das nicht mehr aus räumlichen Qualitäten – sei es in Form von Monumenten oder von Landschaft – besteht, sondern aus den kulturellen Praktiken der Menschen selbst? Denn auch dieses gelebte Kulturerbe wird inzwischen von der Unesco ausgezeichnet. Die Organisation hatte in den 1990er-Jahren den Begriff von Weltkulturerbe einer grundlegenden Revision unterzogen und, parallel zum bestehenden Welterbe-Programm, ein neues Konzept in Gang gebracht, das nach langen Debatten schließlich „immaterielles Kulturerbe“ genannt wurde. Es sieht vor, auch das, was Menschen seit Generationen an tradierter Kultur praktizieren, als Teil des Kulturerbes anzuerkennen. Damit sind vor allem mündlich überlieferte Wissens- und Ausdrucksformen gemeint wie althergebrachte Rituale und Feste, Musik, Tanz, Theater, Handwerkskönnen oder Heilwissen.

Neu an dem Unterfangen ist, dass die Fertigkeiten und das Wissen, das mit immateriellem Kulturerbe verbunden ist, nicht mehr nur einfach dokumentiert und in Archiven oder Museen bewahrt werden sollen, sondern die Weitergabe von einer Generation zur nächsten ins Zentrum der Erhaltungsbemühungen rückt. Nicht mehr die schriftliche Fixierung außerhalb des eigentlichen Kontexts, sondern die Stärkung des Kontexts selbst, in dem eine tradierte Praktik kultiviert wird, soll angeregt werden. Dies wiederum kann, in der Logik der Unesco, nur in enger Zusammenarbeit mit den Staaten geschehen, auf deren Territorien ein solches gelebtes Kulturerbe stattfindet. Sie sollen durch die Unesco-Auszeichnung und die von ihr finanzierten Erhaltungsprojekte ermuntert werden, gerade ihre Minderheitenkulturen stärker zu fördern – ein angesichts der derzeitigen Lage von Minderheiten in vielen Staaten recht ambitioniertes Vorhaben.

Dazu sind seit Mai 2001 von der Unesco 90 verschiedene Kulturpraktiken als „Masterpieces of the Oral and Intangible Heritage of Humanity“ ausgewählt worden, für die individuelle Erhaltungsmaßnahmen entwickelt wurden, wie der Oruro-Karneval in Bolivien, das Kuttiyattam-Theaterspiel in Indien oder die zafimanirische Holzbearbeitung auf Madagaskar.

Werden aber Touristen an das „menschliche Kulturerbe“ nicht genauso nah wie an die Tempel von Borobudur herankommen wollen? Mit dem gleichen zwiespältigen Effekt, dass es manches Kulturerbe ohne das weltweite touristische Interesse wohl nicht mehr gäbe, aber durch das gleiche Interesse auch nichts mehr so ist wie vorher oder nur noch in eingefrorener Form „wie damals“? Bisher ist es für eindeutige Antworten noch zu früh, denn das Programm wird gerade erst bekannt, und noch sind es vor allem Ethnologen und Dokumentarfilmer, die direkt zu den „Meisterwerken“ reisen.

Doch nicht umsonst fällt der Beginn dieser neuen Unesco-Politik zusammen mit dem stetigen Wachstum jener Kulturtourismusbranche, die sich auf „Ethnoreisen“ spezialisiert. Deren Angebote bestehen aus einer ungefährlichen Variante des Erlebnisurlaubs, bei dem man für kurze Zeit am mehr oder weniger authentisch geglaubten Leben teilhaben kann wie bei den mittlerweile fast massenhaft angebotenen Touren mit Tuareg-Karawanen durch die Sahara.

Wird es also demnächst auch die Möglichkeit geben, sich das Spielen des Morin-Khuur-Saiteninstruments der nomadischen Mongolen (ein 2001 ausgezeichnetes „Meisterwerk“) in zwei Wochen beibringen zu lassen, beim Tumba-Francesa-Tanz auf Kuba mitzumachen (2003 proklamiert) oder den mündlichen Überlieferungen und Gesängen der aus Petra vertriebenen Beduinen auf einer Wüstentour zu lauschen (2005 ausgewählt)? Zumindest Letztere sehen im von ihnen entwickelten Erhaltungsprojekt explizit vor, Touristen an ihren Kenntnissen und Überlieferungen teilhaben zu lassen. Und zwar mit der Absicht, die eigenen, sesshaft gewordenen Kinder, die dem Nomadenleben nichts mehr abgewinnen können, wieder dafür zu begeistern.

In Fall der Beduinen sollen die Jugendlichen die Erzählungen und Gebräuche ihrer Großeltern in Wort und Bild dokumentieren, um mit dem alten, mündlich überlieferten Wissen wie den neuen audiovisuellen Medien gleichermaßen vertraut zu werden. Mit den so entstandenen Filmen und Texten soll ein Dokumentationszentrum für Einheimische und Besucher eingerichtet werden. Ob die Begeisterung für die eigene Vergangenheit so weit geht, dass die nächste Generation das Nomadenleben wieder aufnimmt, wird sich zeigen. Erst einmal aber ist das erhoffte Interesse und Reisebudget der Touristen ein Anlass, die Jungen überhaupt noch für die verschwindenden Überlieferungen zu interessieren.

Wer seine Reise zum Weltkulturerbe um einiges unkomplizierter gestalten will, dem sei jene wahre Stätte des Welterbes empfohlen, die wahrscheinlich niemals ausgezeichnet werden wird, obwohl sie einigen der Auswahlkriterien durchaus genügen dürfte: das Hauptgebäude der Unesco in Paris. Mit einem Tagesausflug an die Place Fontenoy im 15. Arrondissement von Paris lässt sich die Weltreise mit einer Zeitreise in die Konferenzmoderne der späten 1950er-Jahre aufs überraschendste verbinden. Sobald man die Einreiseformalitäten am Haupteingang hinter sich gebracht hat (Kontrolle von Ausweis, Gepäck und Grundkenntnissen der Landessprache), gelangt man in ein grandioses Foyer aus zur Decke sich wölbenden Betonpfeilern, das 1958 fertig gestellt wurde und in seiner Kompletterhaltung inzwischen wohl nicht mal mehr in den präsozialistischen Hotels Maputos zu finden ist: von den Anzeigentafeln bei den Aufzügen über den Fußbodenbelag bis weiter hinten zu den kunstledernen Sesseln und Telefonkabinen mit geschwungenen Plastikhauben.

Eine Reise zur Unesco bietet natürlich – schon der Organisationsname verweist darauf –, was von jeder Reise erwartet werden darf: den Zugewinn an Bildung, Wissen und Kultur. Darüber hinaus aber findet sich hier eine Exotik, Vielfalt und kaum zu überbietende Eigentümlichkeit von Arbeitsweisen, wie es sie in unserem gewöhnlichen Büroalltag kaum noch gibt. Mit dem Vorteil, dass man, wenn es einem zu viel wird, durch den Hinterausgang zur Avenue Ségur jederzeit wieder in die Pariser Normalität zurückkehren kann.

Hinweis: ANNE MEYER-RATH, Jahrgang 1974, ist Kulturwissenschaftlerin und lebt in Hamburg. Für die Unesco forschte sie unter anderem in Malawi. Sie promoviert am Hamburger Institut für Sozialforschung zum Thema „Kultur im Dialog. Zur Entstehung eines immateriellen Kulturerbes der Menschheit“.