Denkpause über Europas Zukunft verstreicht ungenutzt

Das europäische Sozialmodell, das ein EU-Markenzeichen werden sollte, droht im Wirtschaftsraum Europa auf der Strecke zu bleiben

BERLIN taz ■ Europa befindet sich in einer Krise, das pfeifen die Spatzen von allen Dächern. Keine Verfassung krönt das Integrationsprojekt. Die nach der Ablehnung in den Referenden Frankreichs und der Niederlande durch die Kommission verordnete „Denkpause“ endet im Mai. Die Pause ist aber nach der Abstimmungsniederlage im Mai 2005 nicht genutzt worden, um eine Debatte über den Kerngehalt der Verfassung anzustoßen.

Wichtiger als die stornierte Verfassung sind freilich die unbefriedigende wirtschaftliche und soziale Lage der EU. Das Modell der „negativen Integration“ durch Deregulierung der nationalstaatlichen Regeln und Entfesselung des „Standortwettbewerbs“ ist nur so lange attraktiv, wie der wachsende Wohlstand durch Freihandel kein leeres Versprechen bleibt. Doch was ist bislang herausgekommen? Ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Zunahme prekärer Beschäftigung. Unter den abhängig Beschäftigten sind in der EU 16 Prozent scheinselbständig, 18 Prozent arbeiten in Teilzeit, 14 Prozent haben nur befristete Arbeitsverträge. Angesichts dieser Zahlen ist der verbreitete Ruf nach noch mehr „Flexibilität“ des Arbeitsmarktes vor allem Provokation und zur Verunsicherung gedacht.

Das europäische Sozialmodell, das ein Markenzeichen der EU werden sollte, droht im Wirtschaftsraum Europa auf der Strecke zu bleiben. Daran ändert die Kombination von Flexibilität und Security im Kunstwort „Flexicurity“ nichts. Kommission, nationale Regierungen oder die Europäische Zentralbank folgen dem Gleichklang neoliberaler Deregulierung, Liberalisierung, Flexibilisierung, Privatisierung. Doch kann man nicht die Dienstleistungsmärkte liberalisieren und den billigsten Anbietern Konkurrenzvorteile europaweit verschaffen, ohne Gegenbewegungen auszulösen. Der Widerstand gegen die Dienstleistungsrichtlinie hat es gezeigt. Soziale und Umweltstandards sind notwendig, gerade wenn die Wettbewerbsfähigkeit der EU wie in Lissabon 2000 beschlossen auf die Weltspitze getrieben werden soll.

Selbst wenn die EU der stärkste Global Player wird, wächst Europa vor allem mit den materiellen Vorteilen und mit realistischen Zukunftsperspektiven der Bürgerinnen und Bürger zusammen. Dabei handelt es sich um scheinbare Trivialitäten wie Beschäftigung und Löhne, die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen, die Bereitstellung von Bildungs- und Ausbildungsplätzen, die Sicherung der Alterspensionen und des Kündigungsschutzes, für dessen Erhalt in Frankreich Millionen wochenlang demonstriert haben. Regionale Integration wird befördert, wenn öffentliche Güter und Dienste bereitgestellt werden, wenn demokratische Partizipationsmöglichkeiten gestärkt und der Frieden gesichert werden.

Doch das EU-Budget ist strukturell viel zu klein, um politisch gestaltend auf europäischer Ebene viel ausrichten zu können. Im Dezember 2005 haben sich in Brüssel die europäischen Regierungschefs auf 1,045 Prozent des Bruttonationaleinkommens der EU geeinigt, die in den Haushalt fließen sollen. Diese Mittel werden vor allem für Subventionen und Infrastrukturen verwendet, die zum allergrößten Teil der Wirtschaft zugute kommen.

Zwar hat es die EU auf dem Weg der positiven Integration weiter gebracht als Wirtschaftsblöcke anderswo. Doch die positive Integration durch öffentliche Güter zur Förderung der sozioökomischen und menschlichen Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger von Talinn bis Lissabon ist heute durch Privatisierung und Sozialabbau gefährdet. Außerdem bricht die Einnahmebasis zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben im Wettlauf um die niedrigsten Unternehmensteuern weg. Dagegen haben die Wirtschafts- und Finanzminister der EU auf dem letzten Treffen am 7. und 8. April im aristokratischen Ambiente der Wiener Hofburg nichts unternommen.

Anders auf dem „alternativen Ecofin“ von Gewerkschaften und globalisierungskritischen Organisationen, der in den Tagen zuvor im bürgerfreundlichen Rathaus der Stadt Wien tagte. In der „Wiener Deklaration“ werden Maßnahmen zur existenzsichernden Vollbeschäftigung, zur sozialen Gerechtigkeit und ökologischen Nachhaltigkeit, zur Gestaltung der globalen Wirtschaftsbeziehungen entwickelt. Das klingt wohl gemeint und weltfremd. Doch ist es nicht eher weltfremd zu glauben, den sozialen Zusammenhalt unterminieren und gleichzeitig wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit stärken zu können? ELMAR ALTVATER