Haltepunkt: Bahnhofstreppe

Kleine Bahnhöfe müssen nicht behindertengerecht sein, urteilt das Bundesverwaltungsgericht. In NRW sind das oft nicht einmal die großen, kritisieren Behinderte. „Wir kommen nicht vorwärts“

VON MIRIAM BUNJES

Ein Bahngleis, eine steile Treppe in die leere Bahnhofshalle: Am S-Bahnhof Hagen-Vorhalle steigen täglich ein paar hundert Menschen in die Züge, ergab eine Messung der Bahn. Sabine Johanns kann nicht dazu gehören – obwohl sie von ihrer Haustür bis zur S-Bahnstation nur eine Viertelstunde braucht. Als Rollstuhlfahrerin ist die nahe Bahn unerreichbar. „Mir war klar, dass sich mein Leben durch den Unfall stark verändern wird“, sagt die 36-Jährige. „Ich habe mir aber mehr Selbstständigkeit vorgestellt.“

„Wer auf kleine Bahnhöfe angewiesen ist, hat in NRW Pech gehabt“, sagt Annette Schlatholt vom Landesbehindertenrat, der Dachorganisation der Behindertenverbände. Nicht einmal alle großen Bahnhöfe seien behindertengerecht. „Am Essener Hauptbahnhof kommen Rollstuhlfahrer nur per Lastenaufzug aufs Gleis“, sagt Schlatholt. „Den dürfen sie natürlich allein nicht bedienen.“

Am Zustand der kleinen Bahnhöfe wird sich vorerst nichts ändern. Anfang des Monats entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass sie nicht barrierefrei sein müssen. Geklagt hatten der Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte (BKM) und der Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter (BSK). „Das Behindertengleichstellungsgesetz hat sich als zahnloser Tiger erwiesen“, sagt Katja Kruse, Rechtsexpertin beim BKM.

In dem im Mai 2002 in Kraft getretenen Gesetz steht die Barrierefreiheit zentral. Die Bahn veränderte deshalb ihre Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung: Wird ein Bahnhof umgebaut, muss er behindertengerecht werden. Daraus ergebe sich jedoch nicht die Verpflichtung, jeden Bahnsteig behindertengerecht zu gestalten, urteilten die Leipziger Bundesrichter – und bestätigten damit die interne Richtlinie der Bahn, Haltestelle mit unter 1.000 Ausstiegen auch bei Umbauten nicht barrierefrei zu gestalten.

„So kommen wir nicht weiter“, sagt Annette Schlatholt vom Landesbehindertenrat. „Es kann nicht sein, dass Behinderte heutzutage immer noch nicht einfach mal abends in ein Konzert gehen können.“

In NRW fließen 176 Millionen Euro pro Jahr in die so genannte Modernisierungsoffensive – Bahnhofsumbauten, zu denen immer Barrierefreiheit gehört. Das meiste zahlt der Bund, 15 Millionen Euro das Land und 25 Millionen die Bahn. „Es ist Jahrzehnte lang nichts für die Barrierefreiheit gemacht worden“, sagt NRW-Bahnsprecher Gerd Felser. „Und es gibt fast 700 Bahnhöfe. Das dauert noch Jahrzehnte, bis alle behindertengerecht sind.“ An knapp der Hälfte dieser Bahnhöfe steigen weniger als 1.000 Fahrgäste aus. „Viele davon sind heute schon behindertengerecht“, betont der Bahnsprecher. 127 seien barrierefrei, 71 immerhin teilweise. „Leider werden die Aufzüge häufig demoliert.“

Der Landesbehindertenrat fordert deshalb seit Jahren den Einbau von Rampen. „Sonst müssen sich Behinderte bei Bahnmitarbeitern melden, damit sie die Aufzüge oder Plattformen aufschließen“, sagt Annette Schlatholt. „Rampen sind personalunabhängig und man kann sie zu jeder Uhrzeit benutzen.“ Zur Zeit gingen der Bahn durch ihre Barrieren zehntausende KundInnen verloren, schätzt sie. „Das betrifft ja auch Eltern mit Kinderwagen.“

Sabine Johanns richtet sich weiter nach den Arbeitszeiten ihrer Bekannten. Zusammen mit anderen Hagener Gehbehinderten ruft sie zur Zeit eine Fahrgemeinschaft ins Leben. „Dauernd können wir uns kein Taxi leisten“, sagt sie.