Der verrückte Professor

Das schreckliche Schicksal des ehemaligen Finanz- und Steuerexperten Paul Kirchhof

Vier lange Jahre dauerte seine Internierung, vegetierte er in der geschlossenen Abteilung

Er sitzt hinter zugezogenen Vorhängen im Lehnstuhl. Seine Beine hat er auf einen Schreibtisch gehievt, der sich unter der Last der Bücher und Manuskripte biegt. Nachts hat er manchmal Albträume, da rennt er durch die Flure des Finanzministeriums und findet den Ausgang nicht.

Wir schreiben den 18. April 2009. Knapp vier Jahre ist es jetzt her, dass er, der damals hochgeschätzte Professor Paul Kirchhof, nach der Bundestagswahl 2005 in die psychiatrische Uniklinik in Heidelberg zwangseingeliefert wurde. Vier lange Jahre dauerte seine Internierung, vegetierte er in der geschlossenen Abteilung, ruhig gestellt mit Psychopharmaka, die ihm von unionsnahen Psychiatern verabreicht wurden.

Paul Kirchhofs Geschichte ist lang, sie klingt unglaublich. Sie handelt von einem Bundesverfassungsrichter a. D., einem von Kollegen und Studenten geachteten Professor, der eine Vision hatte. Die Vision einer radikalen Entrümpelung des komplizierten deutschen Steuersystems, dem er sein genial-einfaches Steuermodell entgegensetzte. Wenn er heute von seinem Flat-tax-Modell, nach dem alle 25 Prozent zu zahlen hätten, spricht, glimmt neu entfachtes Feuer in seinen erloschenen Augen: „Ich wollte das Tor aufstoßen in den Garten der Freiheit, mein Steuersystem war ein echtes Juwel.“ Doch die Realität lehrte ihn das bittere Gegenteil – hinter ihm schloss sich schon bald das Tor und er fand sich im Anstaltshof der Unfreiheit wieder.

Die gleichen Unionspolitiker, die ihn zuvor als Wahlkampfzugpferd eingesetzt hatten, machten ihn 2005 für das schlechte Wahlergebnis verantwortlich und ließen ihn fallen wie eine ausgequetschte Kartoffel, wie eine heiße Zitrone. Schlimmer noch – weil sie die Rache des intellektuell überlegenen Steuervisionärs fürchteten, musste er verschwinden. Merkel & Co ließen ihn von willfährigen Ärzten für verrückt erklären. Sein missionarischer Eifer wurde ihm nun zum Verhängnis. Sätze wie „Das Tor ist offen, und die Sonne kommt herein. Mit meinem Steuerkonzept halten wir ein Juwel in den Händen“, mit denen er im Wahlkampf voller Inbrunst für sein Modell geworben hatte, dienten nun als Beweis für seine religiösen Wahnvorstellungen.

Eingesperrt hinter Klinikmauern wuchs er in die Rolle hinein, in die ihn die Führungsriege der Union gedrängt hatte. Paul, der Sündenbock, der verrückte Professor, der mit dem 25-Prozent-Tick, der nicht verstand, warum er nicht mit Bierdeckeln spielen durfte oder „den Konz“ lesen oder einfach nur herumtollen im Garten der Freiheit. Nach zwei Jahren unter Irren war er selbst einer geworden. „Unser Professor ist vom Teufel besessen“, erklärte Friedrich Merz im Frühjahr 2006 bei „Sabine Christiansen“ das plötzliche Verschwinden Paul Kirchhofs.

Ein Teufelskreis begann: Kirchhofs Gegenwehr schien den Ärzten als Beweis für seine Geisteskrankheit zu genügen, sie spritzten ihn willenlos und notierten Befunde, mal „psychotische Episode aus dem schizophrenen Formenkreis mit chronischem Verlauf“, mal „zwanghafte Zahlenfixierung, schleichender Beginn seit früher Kindheit“.

Ohne richterlichen Beschluss zur Zwangseinweisung, ohne seine Einwilligung – Kirchhof war 2005 immerhin 61 Jahre alt und selbst verantwortlich für sein Leben – sperrten ihn die ärztlichen Handlanger der Union weg. Als wäre er Proband der Pharmaindustrie, bekam Kirchhof insgesamt 25 verschiedene Medikamente, darunter stark dämpfend wirkende Neuroleptika wie Haldol gegen die angebliche Steuerpsychose. Bald war Paul Kirchhof süchtig nach Medikamenten, bald bekam er wirklich Wahnvorstellungen, Edmund Stoiber verfolgte ihn in mit seiner schrillen Stimme stundenlang durch die labyrinthischen Gänge der Anstalt. Dann kam der Alkohol. Er trank Campari, eine Flasche pro Tag, denn nur der hatte den richtigen Alkoholgehalt – genau 25 Prozent. Im September 2009, nach vier Jahren hinter Gittern, entkam Paul Kirchhof wie durch ein Wunder der geschlossenen Anstalt. Es war keine Flucht, man wollte ihn nicht entlassen, er hatte einfach das Glück, eine Patientin zu treffen, die sich seiner erbarmte, die sagte, er sei ganz normal, er könne klar denken, das Einzige, was er brauchte, sei ein bisschen Zuwendung.

Paul Kirchhofs Retterin heißt Waltraud Birk. Sie waren Zimmernachbarn in der Heidelberger Klinik. Die ledige Löterin war wegen eines Nervenzusammenbruchs dort. Als ihre Schwester sie nach drei Wochen abholte, sagte sie: „Ich fahre nicht ohne Paul.“ Gegen den Rat der Ärzte stieg Kirchhof mit ins Auto, er wünschte sich nichts sehnlicher als die Geborgenheit im trauten Heim einer Geringverdienerin. Waltraud Birk ist eine einfache Frau, sie versteht nicht viel von Steuermodellen oder Leichtlohngruppen, dafür backt sie wie eine Weltmeisterin. Ihr altdeutscher Apfelkuchen war für Paul Kirchhof heilsamer als alle Universitätsärzte. Anfangs verdrückte er immer genau 25 Stück. Heute ist er schon nach drei Stück zufrieden. Er ist geheilt.

Jetzt, nach dem Ende der albtraumhaften Jahre hinter Gittern, lebt Paul Kirchhof im Souterrain von Waltraud Birks Siedlungshäuschen. Er hat sich verabschiedet vom Leben im Rampenlicht der Wissenschaft und Politik. Allmählich verblassen die Schatten des Schattenkabinetts, die ihn jahrelang nicht mehr losließen und ihn verfolgten in seinen schlaflosen Anstaltsnächten. Er ist zurückgekehrt zu den einfachen Freuden des Lebens an der Seite seiner Retterin aus dem Volke. Nur manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlt, setzt er sich an den Schreibtisch und knipst seine Studierlampe an. Verstohlen blickt er sich um, holt den Rechenschieber heraus und rechnet sein Steuerkonzept noch einmal durch. Nach einer Weile kommt Waltraud lautlos ins Zimmer und bringt ihm ein Stück Zupfkuchen an den Schreibtisch und eine gute Tasse Bohnenkaffee. RÜDIGER KIND