U-BAHN-ZUMUTUNGEN
: Bräunlich angelaufen

Meine Zumutung trägt einen pinkfarbenen Strickpullover

Mir gegenüber auf der Dreierbank sitzt eine Frau in Schwarz. Blonder Pferdeschwanz, Musik in den Ohren, Zeitung. Neben ihr sitzt eine Zumutung. Die Zumutung ist spindeldürr, Chuck-Norris-Gesicht unter einer Basecap, schlechte Zähne. Der Typ macht die Beine in engen Jeans so breit, dass sein Knie fast die Frau berührt, obwohl der Platz auf seiner anderen Seite längst frei geworden ist. Kann sein, dass er es gar nicht merkt, so wie er in sein Smartphone-Spiel vertieft ist. Kann sein, muss nicht.

Ich sitze der Frau in Schwarz gegenüber und bin ihr Spiegelbild. Nicht wegen der Ohrhörer, die ich ebenfalls trage, oder wegen der Zeitung, sondern wegen der Zumutung. Meine Zumutung ist so um die sechzig und trägt einen pinkfarbenen Strickpullover. Ich sehe die Frau nur aus den Augenwinkeln, denn sie sitzt sehr nah neben mir, aber sie wirkt irgendwie unproportioniert: Über einem gedrungenen Körper sitzt auf einem langen Hals ein kleiner Kopf mit großer Brille.

Eine Zumutung ist das natürlich noch nicht. Auch nicht ihre dünnen, fast kindlichen Hände. Aber diese Hände greifen mechanisch in einen Gefrierbeutel, der aus einer beigen Handtasche ragt. Sie befördern Apfelschnitze zutage, die die Frau stoisch kaut. Knack, macht es. Knurps. Ganz frisch sind die Stücke aber nicht, sondern bräunlich angelaufen, und sie verbreiten einen irgendwie unguten Geruch. Einen Geruch nach enger Küche mit Resopalmöbeln. Nach Fernseher mit Spitzendeckchen. Oder schiefgetretenen Hausschuhen. Metaphorisch, versteht sich.

Der Chuck-Norris-Typ hustet rasselnd, schaltet das Handy aus und schlägt die Beine übereinander. Doch keine Absicht. Wahrscheinlich. Dann steigt er aus. Die Frau im pinken Pullover isst weiter, langsam, mechanisch. Offenbar beherbergt ihr Gefrierbeutel den Weltvorrat an braun gewordenen Apfelschnitzen. Knack. Knurps. CLAUDIUS PRÖSSER