Nachdem die Bilder migrieren lernten

AUFMERKSAMKEIT Angesichts von Handys, Internet und digitalen Medien sieht das Kino ganz schön alt aus – oder muss es errettet werden? Filmwissenschaftler debattierten in Potsdam über die Entgrenzung der bewegten Bilder

Angesichts mancher Einblicke ins hochgerüstete digitale Experimentierlabor mag manchem philologisch orientierten Filmwissenschaftler ziemlich mulmig werden

VON THOMAS GROH

„Bei allem Respekt, schaut euch seine Hosen an – großartig!“, kommentiert ein YouTube-User das Video von 1978, in dem der spätere Nobelpreisträger George E. Smith die elektronische Bildproduktion erklärt. Ein im Netzalltag banaler Kommentar wird auf einer filmwissenschaftlichen Tagung zum Thema „Entgrenzung des Kinos – Grenzen des Films“, die am Wochenende in Berlin stattfand, rasch zum beredten Zeugnis am Bildrand.

Nicht nur weil der Livezugriff auf YouTube als Archiv mittlerweile auch für Vorträge selbstverständlich ist, sondern auch weil darin eine Einbettung des Bewegtbildes in neue Konstellationen von Öffentlichkeit und Aufmerksamkeitsökonomien zutage tritt. Das YouTube-Bild liest man über seinen Rahmen hinaus, man scannt in Sekundenbruchteilen die nebenstehenden „Ähnlichen Videos“ (mitunter ratlos, worauf sich diese Ähnlichkeitsannahme beruft), oder man betrachtet das Video einen zerstreuten Moment lang unter Gesichtspunkten einer Geschichte der Beinbekleidung.

Dem Kino, vormals privilegierter Ort des Bewegtbildes, ist dieses Privileg mittlerweile abhandengekommen. Mit Fernsehen und Video begann eine davon losgelöste Distribution bewegter Bilder, die einem heute, mit den Möglichkeiten digitaler Medien, überall entgegentreten: auf dem Handy, im Netz, in Wohnzimmer, Museum, Kunst, Theater. Auch deshalb musste es auf der Tagung um Grundsätzliches gehen: Der Filmwissenschaft stellt sich bei solchen Migrationsbewegungen auch die Frage nach Gegenstand und Methode.

Im Kino jedenfalls hätte der obige Kommentar als Regelverstoß gegolten. Den Modus und die Einzigartigkeit dieser Situation beschrieb der Filmtheoretiker Raymond Bellour eingangs im errettenden Gestus französischer Cinephilie. Die Parameter des Kinos in der Ausformung seiner klassischen Periode – Ruhe, Dunkelheit, verbindlicher Vorführtermin – bedingen die Spezifik des Kinobildes als Erinnerungsbild und damit die Möglichkeit einer Rezeption, die Fernsehen und Installation nicht bieten.

Die Spezifik des Kinobegriffs rettete auch Vinzenz Hediger, der das ironische Spiel medialer Mimikry im filmtheoretischen Rückgriff auf die fotorealistische Malerei zugunsten des Kinos entschied: Fernsehen und andere Medien mögen einen neuen Begriff von Historie prägen – das Kino steht schon mit der Kamera bereit, sich diesen wieder einzuverleiben. In einer vergleichenden Analyse der Spezifik des experimentellen „Expanded Cinema“ um 1970 und dessen Re-Emergenz im gegenwärtigen Museumsbetrieb akzentuierte Volker Pantenburg im Hinblick auf den unterschiedlich situierten Betrachter grundsätzliche Differenzen beider Auf- und Vorführpraxen.

Mit den im Zusammenfluss alter Medien entstehenden neuen Bildtypen und -qualitäten befassten sich Gertrud Koch und Simon Rothöhler. Die Verschaltung der zeitlich reglementierten Vorführpraxen von Film und Fernsehen mit der zeitlich flexibleren Aufführpraxis des Theaters lässt Koch fragen, ob das Theater selbst zum Bild werden will und welchen Status die medialen Bilder wiederum auf der Bühne einnehmen. Sehr präzise beschrieb Rothöhler die HD-Ästhetik der jüngeren Arbeiten des Hollywood-Regisseurs Michael Mann: Die hochauflösende Digitaltechnik entbirgt im urbanen Nachtraum eine nuancierte Schattenwelt, die sich dem 35-mm-Film entzieht.

Digital ist besser

Zumal Manns letzter Film, das Mafiadrama „Public Enemies“, hat für das Kino empfindliche Folgen: Die Umkopierung auf analoges Filmmaterial korrumpiert Manns hyperfotografische Ästhetik und stellt damit diesen Distributionskanal infrage.

Grenzen herkömmlicher Filmanalyse zeigte Lev Manovich, Guru einer affirmativen Theorie digitaler Medien, auf: Der mit Sichtung und Versprachlichung arbeitenden Filmwissenschaft stellt Manovich eine Software entgegen, die es gestattet, Berge von kulturellen Artefakten elektronisch zu verarbeiten und in bildgebenden Verfahren zu vergleichen und zu quantifizieren. Die teils verblüffenden visuellen Ergebnisse versteht er als neuartiges Interface mit Erkenntnispotenzial, das auch wegen seiner kategoriellen Flexibilität der Sprache vorzuziehen sei: Was Sprache erst mühsam definieren oder beschreiben muss, wird in der Verräumlichung einer parametrischen Anordnung evident.

Einer sich philologisch und hermeneutisch verstehenden Filmwissenschaft mag angesichts solcher Einblicke ins hochgerüstete Experimentierlabor mulmig zumute werden. Dass in der Aneignung digitalgestützter Forschungsmethoden die Möglichkeit schlummern mag, die ebenfalls digital bedingten Eskalationen der Bildproduktionen wieder in den Blick zu kriegen, lässt sich indes schwer von der Hand weisen.