krankenstand etc.
: Große Leistungen unter Qualen

Die Zeitungen melden, der Krankenstand der Deutschen sei auf ein Rekordtief gesunken, den Grund vermutet man in der Angst vor Entlassungen. Wer sich krankmeldet, sägt am eigenen Ast. Lieber quält man sich hin und wird depressiv. Als Autor lebe ich in der Hölle der Freiheit. Ich werde nie entlassen werden, weil mein Verlag die Produktion von Texten nach Asien verlegt. Entlassen zu werden, wäre immerhin eine Form von Beachtung, ich bin aber von Haus aus überflüssig, und es war meine Entscheidung, so zu leben.

Die Leser würden mich kaum gegen Autoren austauschen, die weniger oft krank sind. Im Gegenteil, Hypochondrie war immer ein Markenzeichen großer Autoren. Die Konkurrenz muss ich nicht für ihr Immunsystem fürchten, sondern für ihre guten Kontakte. Zusammenreißen können wir uns schließlich alle. Große Leistungen wurden immer unter Qualen vollendet. Der ewig leidende Thomas Mann soll sich so schnell von seinem Lungentumor erholt haben, weil er den „Doktor Faustus“ beenden wollte. Man stirbt nicht vor seinem Opus magnum, danach allerdings unter Umständen recht fix. Das ist wie bei Ehepartnern, die sich nur um ein paar Monate überleben.

Allerdings kann ich nicht arbeiten, wenn ich krank bin. Schreiben ginge noch, aber ich muss ja auch den Bürokram machen und repräsentieren. Ich muss vor der Vertreterversammlung lesen, den Verleger treffen und dabei so berechenbar wirken, dass er mir einen Vorschuss gibt, ich muss bei anstrengenden Lesungen in Buchhandlungen, die ich als Kunde nie betreten würde, charismatisch wirken und mich bei Buchmessen auf Literaturbetriebspartys feiern, von „Lesern“ anrempeln lassen. Das kann man nur durchstehen, wenn man lebt wie ein Mönch.

Ich kenne erstaunlich viele Extremsportler unter den Kollegen. Als im vergangenen Jahr von der Fußballweltmeisterschaft der Autoren in Italien berichtet wurde, schrieb ein großes Nachrichtenmagazin von „zarten Poetenbeinen“. In Wirklichkeit waren in der Mannschaft vier Marathonläufer und ein Kickboxer. Der Krankenstand unter den deutschen Schriftstellern ist auf ein Rekordtief gesunken und mit ihm auch die Qualität der Texte.

JOCHEN SCHMIDT