Der soziale Jetlag

In Lerchen und Eulen – Frühaufsteher und Nachtschwärmer – teilen Chronobiologen die Menschen ein. Ursache für die zeitlich unterschiedlich aktiven Phasen ist die innere Uhr. Sie bestimmt den Tagesablauf des Körpers und wann welches Organ aktiv ist

Viele Jugendliche leiden unter chronischem Schlafdefizit

VON KARIN FLOTHMANN

Viele Menschen in Deutschland ticken nicht richtig. Und das ist sogar wissenschaftlich untermauert. „Ein großer Teil der Deutschen leidet tagtäglich unter ‚sozialem Jetlag‘ “, behauptet Thomas Kantermann. Der Biologe arbeitet im Zentrum für Chronobiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Dort fanden er und seine Kollegen jetzt heraus, was passiert, wenn Menschen aus ihrer eigenen Zeit gerissen werden. Denn jeder Mensch hat eine eigene innere Uhr, nach der er tickt.

Mal geht diese Uhr schneller und der dazugehörige Mensch zählt zu den Frühaufstehern, die gern schon vor Mitternacht schlafen gehen. Solche Frühtypen nennt Kantermann „Lerchen“. Ihr Kontrapart sind die „Eulen“, Menschen, deren innere Uhren langsamer gehen. Sie können bis in die Abend- und Nachtstunden hinein produktiv sein, kommen erst weit nach Mitternacht ins Bett und schlafen naturgemäß gerne lang.

„Die innere Uhr ist angeboren“, sagt Thomas Kantermann. In jeder Körperzelle tickt eine solche Uhr. Kontrolliert werden die Billionen Uhren von zwei reiskorngroßen Zellhaufen namens suprachiasmatischer Nukleus, kurz SNC. Dieser Nukleus überwacht die Zelluhren, damit sie im Gleichklang ticken. Die Wahrnehmung von Licht und Dunkelheit mithilfe der Augen synchronisiert das innere Zeitsystem mit der Umwelt. Der SNC organisiert den Arbeitstag des Körpers und bestimmt, wann welches Organ aktiv ist: Die höchste Tagesproduktion von Sexualhormonen etwa ist morgens um acht Uhr, von zehn bis zwölf läuft das Kurzzeitgedächtnis auf Hochtouren und in den ersten Schlafstunden wachsen Haare und Fingernägel.

Gerät die innere Uhr aus dem Takt, etwa weil morgens um sechs Uhr der Wecker einer Eule klingelt, dann setzt der „soziale Jetlag“ ein. „Das ist dann wie beim Langstreckenflug“, erklärt Professor Till Roenneberg, ebenfalls Chronobiologe in München. Die Menschen leiden unter Schlafdefizit und sind am Morgen müde, unkonzentriert und weniger leistungsfähig. Das Wochenende brauchen Eulen, um auszuschlafen.

Roenneberg vergleicht Schichtarbeit mit einer Reise über mehrere Zeitzonen hinweg: „Als Krankenschwester in der Nachtschicht arbeiten Sie quasi in den USA, während der Rest ihres Umfelds in Deutschland bleibt.“ Im Gegensatz zum kurzfristigen Flug-Jetlag kann der tägliche „soziale Jetlag“ nach Ansicht Roennebergs jedoch zu einer ernsthaften Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit und der Gesundheit führen. Nicht von ungefähr haben die Münchner Chronobiologen herausgefunden, dass vom „sozialen Jetlag“ gestresste Menschen eher dazu neigen, stark zu rauchen und viel Kaffee zu trinken.

Auch Schüler leiden unter diesem Jetlag, vor allem wenn sie Teenager sind. Denn während der Pubertät verschiebt sich der biologische Rhythmus hin zu späterer Müdigkeit und späteren Aufstehzeiten. Viele Jugendliche leiden unter chronischem Schlafdefizit – und zwar aufgrund ihrer inneren Uhr. Das, so zeigen Untersuchungen, führt oft zu einem Leistungsdefizit.

Der Regensburger Schlafforscher Jürgen Zulley fordert daher schon seit Jahren einen späteren Schulbeginn ähnlich wie in Großbritannien, Schweden oder Frankreich. 9 Uhr sei kindgerechter und erhöhe die Leistungsfähigkeit. Denn wie Erwachsene erreichen auch Kinder und Jugendliche ihr Leistungsmaximum zwischen 10 Uhr und 11 Uhr. „Es ist ungesund, wenn Schulkinder zum Teil bereits um kurz nach 5 Uhr aufstehen müssen, um rechtzeitig in der Schule zu sein“, meint der Professor für biologische Psychologie.

Der Münchner Till Roenneberg ist der gleichen Ansicht: „Unsere Schüler werden heute praktisch mitten in ihrer subjektiven Nacht unterrichtet“, kritisiert er.

Konsequenterweise halten es die Münchner Chronobiologen für angebracht, auch im Arbeitsalltag über flexiblere Arbeitszeiten nachzudenken. Immerhin zählen, laut Thomas Kantermann, rund die Hälfte aller Erwachsenen in Deutschland zu den Eulen. Nur 35 Prozent sind ausgesprochene Frühaufsteher.

Der soziale Jetlag ist also beileibe keine Ausnahmeerscheinung. Da flexible Arbeitszeiten in unserer Arbeitsgesellschaft allerdings häufig unrealistisch sind, hat Kantermann auch andere Tipps: „Wichtig ist vor allem genügend Erholung. Wer unter sozialem Jetlag leidet, muss seinen Schlaf nachholen.“ Schichtarbeiter könnten morgens eine Sonnenbrille auf dem Heimweg tragen. So denkt die innere Uhr, es würde bald dunkel werden, und stellt sich auf Schlaf ein. „Und am allerbesten“, so Kantermann, „ist immer noch das kurze Nickerchen. Wenn’s geht, auch am Arbeitsplatz.“ Wer sein Schlafdefizit nicht nachholt, wird über kurz oder lang krank.

Vielleicht hätten die Sachsen-Anhalter daran denken müssen. Immerhin wird ihnen im März dieses Jahres vom Gesundheitsreport der Techniker Krankenkassen bescheinigt, sie seien häufiger krankgeschrieben als der Durchschnitt aller Bundesbürger. Jeder Berufstätige in Sachsen-Anhalt fehlte im vergangenen Jahr 12,5 Tage wegen Krankheit. In ebendiesem Jahr 2005 hatte die Regierung von Sachsen-Anhalt eine genau gegenläufige Imagekampagne fürs eigene Ländle gestartet: „Sachsen-Anhalt. Wir stehen früh auf“, hieß es da. Und tatsächlich hatte eine Umfrage von Forsa zuvor ermittelt: Die Sachsen-Anhalter stehen neun Minuten früher auf als der durchschnittliche Bundesbürger. Das hat den Eulen unter der Bevölkerung des Landes anscheinend nicht sonderlich gut getan.