Schlummernde Ostfriesennerze

Noch zu Mauerzeiten war Berlin ein Zentrum der Anti-Atom-Bewegung. Davon ist heute nicht mehr viel zu spüren. Aber Totgesagte leben bekanntlich länger. Die verbliebenen AktivistInnen-Gruppen leisten beharrlich Aufklärungsarbeit. Und eine Post-Brokdorf-Post-Castor-Generation wächst schon nach

von FELIX LEE

Es gibt sie noch, die Anknüpfungspunkte an alte Zeiten. Manchmal haben sie die Form eines aufblasbaren Atomkraftwerks. Stephan Hohmann fand das Ungetüm – in voller Größe neun Meter hoch – in der Berliner Geschäftsstelle der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW). Zusammen mit anderen AktivistInnen der IPPNW-Hochschulgruppe an der Charité stellte er das Plaste-AKW vor der Nordmensa auf und verteilte Flugblätter. „Wie alt genau das Ding ist, konnte mir in der Geschäftsstelle keiner sagen“, erzählt der 23-jährige Medizinstudent. „Vermutlich stammt es aus alten Kalkar-Tagen.“

Als im April 1986 der Reaktorblock 4 im ukrainischen Kraftwerk Tschernobyl hochging, war Stephan Hohmann drei Jahre alt. Bei der letzten großen Demo gegen den nie in Betrieb genommenen „Schnellen Brüter“ im niederrheinischen Kalkar war er noch gar nicht geboren: Das war 1977. Natürlich hat er schon von den Schlachten vor den AKWs in Brokdorf und Grohnde oder der geplanten Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf gehört. Aber nicht einmal bei den Auseinandersetzungen um die Castor-Transporte ins Wendland in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre war er dabei. „Ich war zu klein, um mich schon dafür interessieren“, sagt der 23-Jährige. Heute ist er studentisches Vorstandsmitglied bei den Anti-Atomkriegs-Ärzten – und Teil der inzwischen dritten Generation, die sich gegen Atomkraft einsetzt.

Relikte der zweiten Generation gibt es noch: Die monatliche Veranstaltung „atomic café“ im BAIZ an der Torstraße zum Beispiel. Oder die Gruppe „X-tausendmal quer“ – nur dass sie jetzt „Anti-Atom-Gruppe an der TU“ heißt. Und auch das Berliner Anti-Atom-Plenum trifft sich immer noch einmal pro Woche. „Es gibt wenige linke Zusammenhänge in der Stadt, die so beständig arbeiten und zugleich offen sind wie das Anti-Atom-Plenum“, sagt Frank Braune. Der 31-jährige „Wendland-Veteran“ ist seit elf Jahren dabei.

Obwohl die einstige Mauerstadt selbst nie zum Schauplatz schwerer Auseinandersetzungen zwischen Atomkraftgegnern und der Staatsmacht wurde, war die Anti-Atom-Bewegung seit ihren Anfängen auch in Berlin stark. Kaum eine WG-Wohnungstür, von der nicht die strahlende „Atomkraft? Nein danke!“-Sonne mit der ausgestreckten Faust prangte. In kilometerlangen Buskolonnen fuhren die Berliner Atomkraftgegner 1977 und 1978 durch die „Ostzone“ in die Wilstermarsch nach Brokdorf oder 1981 zum Bohrloch 1004 bei Gorleben, wo das Widerstandscamp „Republik Freies Wendland“ den Weiterbau des Zwischen- und Endlagers behinderte. Noch heute schlummern in mancher Altkleiderkiste die damals bei Ökos und Anarchisten so beliebten quietschgelben Ostfriesennerze oder grüne Bundeswehrparkas – die Deutschlandflagge am Ärmel selbstverständlich abgetrennt.

Mit der kämpferischen Anti-Atom-Sonne kann Stephan Hohmann heute nur wenig anfangen: „Das ist wahrscheinlich so ein Generationending.“ Schon zeitgemäßer findet er einen Anstecker mit einer Sonnenblume und den Sternen der Europafahne drauf: „Abolition now!“ – „Abschaffung jetzt!“, steht darauf geschrieben. Globaler, zumindest aber mit europäischem Bezug, geben sich die jungen Atomkraftgegner heute.

Erst seit zwei Jahren trifft sich die Studentische Gruppe des IPPNW wieder. 15 Mitglieder zählt sie. Spektakuläre Aktionen wie Schienenblockaden, Turmbesetzungen und Zäune-Niederreißen kennen die jungen AktivistInnen zumindest aus eigener Erfahrung nicht – oder noch nicht. Stattdessen setzen sie auf Vorträge oder Seminarreihen – also auf klassische Aufklärung. „Es ist doch spannend, zu beobachten, wie das Thema langsam wieder an Aufmerksamkeit gewinnt“, sagt Hohmann zufrieden. „Die Bewegung steckt eben erst mal wieder in den Kinderschuhen.“ Da könne man nicht gleich mit spektakulären Aktionen von sich reden machen. Und ganz klar sei es ja ohnehin noch nicht, wohin die große Koalition in Sachen Atomtechnologie steuern werde.

Frank Braune vom Anti-Atom-Plenum ist der Regierungskurs schnuppe. Auch unter grüner Regierungsbeteiligung habe er keine großen Hoffnungen gehegt, sagt er, denn die deutschen Atomkraftwerke seien nur ein Teil des Problems. Den Export deutscher Atomtechnologien habe es auch unter rot-grüner Ägide weiter gegeben, genauso wie den Uranabbau in Kanada oder den Import französischen Atomstroms.

Braune gehört zu den drei Personen, die regelmäßig beim Anti-Atom-Plenum anwesend sind. Im Schnitt zehn weitere AktivistInnen kommen in unregelmäßigen Abständen zum wöchentlichen Plenum. „Natürlich sprechen wir gerade von bewegungsarmen Zeiten“, sagt Braune. „Aber es gibt ja auch Erfolge.“ Dass im WM-Jahr zum Beispiel kein Castor-Transport fahren werde, gehe auch auf das Konto der Anti-Atom-Bewegung. Die habe schließlich dazu beigetragen, dass ein Transport noch immer extrem viele Polizeikräfte binde – und schon ein Großevent im Jahr die gesamten Pläne der Betreiberfirmen verzögere. Auch im nächsten Jahr werde es keinen Castor geben, glaubt Braune – wegen der Bewegung, die sich gerade gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm formiert.

Nostalgisch wird er nicht, wenn er an die Massenblockaden aus vergangenen Castor-Zeiten denkt. „Ich bin optimistisch, dass es immer wieder Highlights geben wird. „Nach dem Castor ist vor dem Castor“, so lautet schon seit elf Jahren sein Motto. „Und Heiligendamm wird auch Spaß machen.“