„Da kann nichts passieren“

Die Friedensfahrt kränkelt, aber ihr Mythos lebt – selbst 20 Jahre nachdem das Etappenrennen für Radamateure unter der Wolke von Tschernobyl zur Tour der Verharmlosung umfunktioniert wurde

VON ANDREAS RÜTTENAUER

Wenn am 13. Mai zum 58. Male die Friedensfahrt gestartet wird, dann hat sich allerhand verändert beim traditionsreichen Radrennen. Das fängt schon beim Startort an: Der liegt nicht etwa im Osten Deutschlands, in Tschechien oder Polen, den traditionellen Ländern des ehemals ruhmreichsten Etappenrennens für Radamateure, sondern im österreichischen Linz.

Die neuen Sponsoren wollten es so. Andere historische Kreise werden dafür geschlossen. Denn sollte das deutsche Protour-Team T-Mobile mit am Start sein, worüber momentan noch spekuliert wird, dürften beim Teammanager der Magentaradler ganz spezielle Erinnerung wach werden. Schließlich hat Olaf Ludwig das Rennen zwei Mal gewonnen – 1982 und 1986. Bei seinem zweiten Erfolg ging er allerdings mit lediglich 63 Kollegen an den Start – ein Minusrekord. Der Grund: Die meisten der Nationalmannschaften aus Westeuropa hatten abgesagt. Denn das Rennen wurde nur elf Tage nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ausgerechnet in Kiew gestartet. Nur die Nationalmannschaft Frankreichs war angetreten, weil deren Verband von einer Amateurfernfahrt von Moskau nach Paris träumte. So radelten die französischen Rennfahrer an der Seite ihrer Kollegen aus Osteuropa unter der radioaktiven Wolke los, als wäre nichts geschehen, und machten die Friedensfahrt 1986 zu einer Propagandatour der Verharmlosung. Olaf Ludwig hat sich wie wahrscheinlich alle anderen Starter gewundert über die vielen Absagen. Doch er hat den Versicherungen seiner Mannschaftsleitung vertraut. „Das ist weit weg, da kann nichts passieren“, habe es geheißen. Ludwig gewann die Gesamtwertung und wurde zum Sportler des Jahres in der DDR gewählt. Von Tschernobyl war bei der Ehrung natürlich nicht die Rede.

Von der Reaktorkatastrophe wird wohl auch in diesem Jahr niemand reden, wenn das Peloton in Meerane einfährt. Das sächsische Städtchen ist in diesem Jahr nicht nur Ziel einer Etappe, sondern auch Ort der Teampräsentation, steht es doch für den Mythos Friedensfahrt. Die „Wand von Meerane“ war gefürchtet, der steile Anstieg gehörte regelmäßig zum Streckenprofil der „Tour de France des Ostens“. Doch nach dem Fall der Mauer und dem Wegfall der Unterscheidung zwischen Profis und Amateuren fand sich kein würdiger Platz mehr für die Friedensfahrt im Radsportkalender. Das legendäre Rennen fristete ein kümmerliches Dasein.

Als im vergangenen Jahr die Friedensfahrt absagt werden musste, weil sich die tschechischen mit den deutschen Veranstaltern um die Vermarktungsrechte stritten, schien das endgültige Ende festzustehen. Und doch gab es eine Wiedergeburt. Vor vier Monaten präsentierte sich mit Herbert Notter ein renommierter Rennveranstalter und verkündete, dass er 2006 die Friedensfahrt organisieren wolle. Der ehemalige Präsident des Schweizer Radsportverbandes war 1990 schon einmal in die Rolle des Retters der Friedensfahrt geschlüpft und vermittelte erneut zwischen den zerstrittenen Deutschen und Tschechen. „Wir Schweizer sind dazu nun einmal besonders gut in der Lage“, witzelt er heute. In vier Monaten hat er einen Streckenplan entwickelt und einen potenten Sponsor aufgetrieben. 1,2 Millionen Euro beträgt der Etat der neuen Friedensfahrt. Am 2. Mai wird in Meerane bekannt gegeben, welche Teams dabei sein werden. Die Tour wird in Österreich beginnen, über Tschechien nach Deutschland führen und am 20. Mai in Hannover enden.

So lebt sie also wieder, die Friedensfahrt. Vorerst vor allem noch von der Erinnerung – der Erinnerung an die gute alte Zeit.