Der Meister der Myopie wird manisch

Beim 1:1 gegen Tottenham Hotspur will Arsenal-London-Coach Arsène Wenger dreiste Diebe ertappt haben

LONDON taz ■ Vor dem letzten Nordlondoner Derby im Highbury hatten einige Spurs-Fans angekündigt, dass sie viele Stadionsitze heraus reißen und als Andenken mitgehen lassen würden. Arsenal nahm die Drohung ernst: Den Besuchern vom Lokalrivalen wurde eine strafrechtliche Verfolgung angedroht, die Stühle blieben unbehelligt. Arsène Wenger aber hatte am Samstagmittag trotzdem Diebe am Werk gesehen. „Sie kommen hierher und stehlen das Spiel und dann lügen sie auch noch“, schimpfte er nach dem 1:1, „ich kann das nicht akzeptieren.“

Der Zorn des Elsässers hatte sich an Tottenhams Führungstreffer in der 66. Minute entzündet. Die Arsenal-Spieler Gilberto Silva und Emmanuel Eboué waren im Mittelfeld zusammengestoßen und lagen auf dem Boden. Michael Carricks, der überragende Kapitän der Gäste, zögerte weiterzuspielen. Er sah, wie sich der Schiedsrichter nach dem Wohlergehen der beiden erkundigte und dann weglief. Er sah Gilberto Silva aufstehen. Und er sah seine Chance. Er spielte den Ball nicht ins Aus, wie es das ungeschriebene Gesetz des Fairplay verlangt hätte, sondern auf Edgar Davids. Die unsortierte Abwehr war überrascht, Robbie Keane verwertete die Hereingabe des Holländers unbedrängt aus drei Metern. Arsenal protestierte heftig. Lehmann schnappte sich den Ball und rannte Davids über den Haufen, an der Seitenlinie berührten sich die Nasen der Trainer. „Ein Kopfstoß wäre keine gute Idee von Wenger gewesen“, sagte Tottenhams Trainer Martin Jol hinterher vergnügt: „Ich glaube er weiß gar nicht, wie stark ich bin.“ Die kontroverse Szene wollte er „nicht gesehen“ haben. Das brachte Wenger vollends aus der Fassung: „Es passiert genau vor der Bank und die haben nichts gesehen? Ich bin nicht so naiv, so eine Lüge zu glauben.“

Im Presseraum wurde Wenger daran erinnert, dass gerade er in der Vergangenheit bisweilen mit selektiver Kurzsichtigkeit aufgefallen ist. „Meister der Myopie“ nannte ihn einst die Times. „Der Unterschied ist: Wenn ich sage, dass ich nichts gesehen habe, glaubt ihr mir nicht. Er sagt es, und ihr glaubt ihm“, fauchte der Franzose. Wenger ist nicht der allerbeste Verlierer, aber Fairness ist ihm wichtig. 1999, gegen Sheffield United, hatte Arsenal-Stürmer Kanu nicht mitbekommen, dass die Gäste den Ball wegen einer Verletzung ins Aus geschossen hatten. Kanu fing Ray Parlours Einwurf zum United-Torwart ab, flankte auf Marc Overmars, und der schoss ein Tor. Wenger war so beschämt, dass er das Pokalspiel wiederholen ließ. Arsenal gewann wenige Tage später ein zweites Mal.

Martin Jol will natürlich nicht noch mal antreten. Gegen den verhassten Lokalrivalen heiligt der Zweck erstens die Mittel und zweitens könnte das insgesamt verdiente Unentschieden viele, viele Millionen wert sein. Seine Spurs halten weiter den vierten Champions-League-Platz vor Arsenal, die Qualifikation liegt in ihrer Hand. Außer Wenger und Co. gewinnen den Europapokal in Paris – dann würde Arsenal als Titelverteidiger auf Kosten der Nachbarn als vierte englische Mannschaft in der nächsten Saison mitspielen. Für Wenger wäre das die eleganteste Form der Rache und seine Aufstellung zeigte, dass er schon daran arbeitet. Viele Stammspieler wurden am Samstag geschont. Villarreal wartet. RAPHAEL HONIGSTEIN