Indiens Wilder Osten

MAOISTEN Im blutigen Krieg zwischen Maoisten und Regierung ist die Mehrzahl der Ureinwohner zwischen die Fronten geraten

■ Bis 1800 leben Indiens Ureinwohner im Dschungel abseits der jeweiligen Königstümer. Ihre Stämme bleiben unabhängig. Im 19. Jahrhundert ordnet die britische Kolonialmacht die Stämme ihrer Verwaltung unter. Felder werden verpachtet, Waldprodukte besteuert. In hunderten von blutigen Aufständen wehren sich die mit Pfeil und Bogen bewaffneten Ureinwohner gegen die überlegenen Briten. 1871 werden 150 Stämme per Gesetz für kriminell erklärt und interniert. 1878 und 1927 sprechen die ersten indischen Waldgesetze die von Ureinwohnern bewohnten Wälder dem Staat zu. 1847 gewährt der neue, unabhängige indische Staat den Ureinwohnern die Bürgerrechte, ändert aber nichts am Verlust ihrer Waldrechten. Drei Jahre später sichert die indische Verfassung den Ureinwohnern Quoten in Parlamenten, Regierungsämtern und Universitäten. An der Diskriminierung im Alltag ändert sich wenig. 1967 beteiligen sich Ureinwohner am ersten Aufstand der Maoisten in Westbengalen. Bis heute laufen immer mehr Ureinwohner zu den Maoisten über, deren Armee fast ausschließlich von ihnen gebildet wird. (gbl)

AUS CHINTALNAR GEORG BLUME

Konta hat zwei staubige Straßenkreuzungen, ein Internetcafé ohne funktionierenden Netzanschluss, aber mit Eisverkauf, zwei Obstläden und eine Teebude. Konta ist das letzte zivilisierte Dorf vor dem Dschungel im ostindischen Bundesstaat Chhattisgarh. Die Teebude wird von einer lebhaften Bengalin geführt. „Fahren Sie nicht weiter! Im Dschungel herrschen die Maoisten. Und die schießen“, sagt die Frau und gießt süßen Tee mit Milch in einen Becher. Vor ihrem Tresen fährt ein großer Laster vorbei, der Elektrizitätsmasten aus Beton geladen hat. Er bringt die Zivilisation. „Weiter als bis Konta kommt er nicht“, sagt sie.

In Indiens Wildem Osten herrschen Verhältnisse wie im Wilden Westen. Hier kämpft die zukünftige Supermacht gegen die Ureinwohner und die Maoisten. Ihr Kampf ist heute blutiger denn je. Weit hinter Konta in den Bergen, im dichten Dschungel, nach weiteren acht Fahrstunden auf einer zum Teil blockierten, kaum befahrbaren Geröllpiste, erreicht man Chintalnar. Auf einer kleinen Anhöhe im Urwald befinden sich ein schwer bewaffnetes Polizeilager und zwei Dutzend kleine Hütten von Siedlern aus Nordindien. Mehr nicht.

Der Name Chintalnar steht seit dem 6. April 2010 für das Waterloo Indiens im Kampf gegen die Maoisten. Erst im November hatte die Regierung in Delhi eine Großoffensive ihrer paramilitärischen Polizeieinheiten (Central Reserve Police Force, CRPF) gegen die seit 43 Jahren im Dschungel kämpfenden Aufständischen ausgerufen. Seither wurden 200.000 CRPF-Soldaten überwiegend in den Bundesstaaten Chhattisgarh, Jharkhand, Orissa und Westbengalen stationiert.

Dort liegt der Großteil von Indiens immensen Bodenschätzen. Die Kampfschauplätze sind deshalb oft Bergbaugegenden, in denen die Guerilla im Namen der Ureinwohner gegen Polizei und Konzerne antritt. Nicht so in Chintalnar, wo die Natur noch unberührt ist. Doch gerade hier schlug die Dschungelguerilla zurück, militärisch stärker, professioneller und rücksichtsloser als je zuvor. Eine Stunde Fußmarsch von Chintalnar entfernt töteten die Guerillatruppen am 6. April 76 Polizisten in einem Hinterhalt. Die Maoisten hatten die Polizisten zuvor drei Tage lang unbemerkt verfolgt und das Terrain vermint.

Größer als Österreich

„Das war hochprofessionell“, sagt der neue CRPF-Lagerkommandant in Chintalnar. Er trägt einen Trainingsanzug und stellt sich mit seinen Initialen vor: SK. SK wurde am 7. April von einem Armeehubschrauber über Chintalnar abgeseilt. Er spricht geschliffenes Oxford-Englisch. Er ist ein Elitepolizist der sogenannten Kobra-Einheit aus Delhi. Sein Vorgänger starb am 6. April. Typen wie SK und die Kobra-Einheiten der CRPF sind der Stolz der Nation. SK hat lange in Kaschmir gekämpft, früher war die CRPF im Grenzkrieg gegen China und im Krieg gegen Pakistan im Einsatz. Aber nie wurde sie so gedemütigt wie jetzt in Chintalnar.

Wie aber konnte das passieren? Was macht die indischen Maoisten heute nach den Taliban zur zweitstärksten Guerillabewegung der Welt? Warum verfängt der Maoismus heute gerade im aufstrebenden Wirtschaftswunderland Indien? Viele Fragen. Die ersten und besten Antworten finden sich am Tatort.

Chintalnar liegt inmitten des größten Dschungels des Subkontinents. Seine Fläche erstreckt sich über 90.000 Quadratkilometer, es ist größer als Österreich. Es ist kein gewöhnlicher Urwald. Die Inder nennen ihn Dandakaranya, „Wald der Dämonen“. Den alten hinduistischen Sagen nach verbergen sich hier die Teufelsgötter. Für die meisten Inder ist dieser Wald Niemandsland. Deshalb bietet der Guerilla den besten Schutz, den sie in ganz Indien finden kann. Der Dandakaranya ist ein Land im Land: „Befreites Gebiet“, sagen die Maoisten.

Aber im Grunde gehört der Wald den Ureinwohnern. Er ist Heimat der „Adivasi“, der „ersten Bewohner“, wie sich die Ureinwohner selbst nennen. Indien zählt 80 Millionen Ureinwohner, 8 Prozent der Bevölkerung. Sie gehören unzähligen Stämmen an. Sie leben oft primitiv wie die ersten Menschen. Nicht weit von Chintalnar gehen ein paar Dutzend Adivasi an einem Morgen fischen. Sie steigen mit handgeflochtenen, handtuchgroßen Netzen in die Tümpel der Wasserbüffel und ziehen den Schlamm durch die Netze. Bald liegt ein meterhoher Haufen Fisch vor ihnen. Sie teilen ihn in winzige Häuflein. „Es kommt nicht darauf an, wer wie viel gefischt hat. Jeder bekommt die gleiche Menge“, sagt ein junger Adivasi. Als herrsche im Dandakaranya noch eine Art Urgerechtigkeit.

Dabei wurden die Adivasi in den letzten 200 Jahren von Indiens Herrschern bekämpft, vertrieben, gemordet. Aber sie haben überlebt, in großer Zahl. Hunderttausende, wenn nicht Millionen von ihnen bevölkern allein den Dandakaranya. Der undurchdringliche Dschungel bietet auch ihnen Schutz.

Nirgendwo sind Hunger und Unterernährung in Indien größer als unter den Ureinwohnern

In die Wälder geflüchtet

Entlang der steinigen Fahrbahn nach Chintalnar zieht eine Adivasi-Familie vom Stamm der Koya. Die Frauen der Familie tragen Saris und Körbe voll gelber Mahuwablüten auf dem Kopf. Eine von ihnen hat ein Baby mit viel zu dünnen Gliedmaßen im Arm. Die Männer tragen Lendenschurze und Äxte. Ihre Haut ist schwarz, die Haare sind gelockt. Sie ziehen von ihren Waldhütten ins nächste Dorf, um die Blüten zu verkaufen, aus denen Schnaps gemacht wird. Mehr hat der Dschungel zurzeit nicht zu bieten. Die Blüten bringen 12 Rupien, umgerechnet 20 Cent, für ein Kilo. Nicht genug, um für die Familie ausreichend Reis kaufen zu können.

Nirgendwo sind Hunger und Unterernährung in Indien größer als unter den Ureinwohnern. Wie die Kaste der Unberührbaren gelten sie für viele Inder immer noch als Untermenschen. Wie einst die Christliche Mission unter den Unberührbaren Zulauf fand, sind es heute die Maoisten, die die Aktiven und Kreativen unter den Ureinwohnern anziehen. Der Großteil der einfachen Waldbewohner aber steht zwischen allen Fronten. Bitter klagt der Vater jener Koya-Familie über die alltägliche Gewalt im Dschungel. „Die Polizisten ärgern uns ständig. Seit meiner Kindheit verprügeln sie meinen Vater und mich regelmäßig. Immer wieder werfen sie uns vor, Freunde der Maoisten zu sein.“ Doch auch mit den Maoisten liegt der Mann quer, obwohl er mit ihnen weniger schlechte Erfahrungen gemacht hat. Sie kämen abends, würden die Familie belehren und ihr das Essen wegnehmen, sagt er.

Die Ureinwohner sind vorsichtig. Sie fürchten die Rache der Polizei, weil man sie verdächtigt, den Maoisten geholfen zu haben. Normalerweise machen sie sich an Markttagen zu Tausenden in die Dörfer auf. An diesem Tag aber sind nur wenige Familien mit ihrer Dschungelernte unterwegs. Die Hütten rund um Chintalnar stehen schon seit dem 6. April leer. Sie sind notdürftig mit Betten verbarrikadiert, auf den Bambuszäunen hängt Wäsche. Die Menschen haben sich in die Wälder geflüchtet. Im Zweifel trauen sie den Maoisten mehr als den Polizisten.

Nur wenige Adivasi sind den Polizeikräften im Dschungel treu. Es sind meist die Familien der jungen Polizeimilizen, die mit den CRPF-Truppen im Urwald in Lagern leben. Vor fünf Jahren startete die Regierung im Bundesstaat Chhattisgarh eine Initiative, mit der junge Ureinwohner als bewaffnete Milizen angeheuert wurden. Bürgerrechtler sehen darin bis heute ein verfassungswidriges Vorgehen, das das Primat der Justiz umgeht. Auch gaben viele der jungen Kämpfer schnell auf, weil sie die Überlegenheit der Guerilla zu spüren bekamen. Andere kämpften weiter – wie der 23-jährige Ajay Kumar. Er hockt im Schatten eines Baumes vor einer Tabakbude gegenüber einem Polizeilager am Weg nach Chintalnar.

Dschungeljustiz

Kumar nennt sich „Sonderpolizeibeamter“ (Special Police Officer, SPO). Er trägt ein blaues Sporthemd, schwarze Hosen, Turnschuhe. Die meisten Ureinwohner tragen Lumpen und Lendenschurze. Doch als SPO bezieht Kumar ein Polizistengehalt. Dafür soll er seine Stammesgenossen bestrafen, die die Maoisten unterstützen. Die Polizeimilizen sind bekannt für Raub, Mord und Vergewaltigungen unter den Ureinwohnern. Kumar kennt die Vorwürfe. Ihn hat das Schicksal zum SPO gemacht: Erst verschleppte ihn die Polizei zum Verhör, weil die Beamten glaubten, er habe den Maoisten geholfen. Dann kamen die Maoisten nach Kankerlake und töteten seinen Vater, weil sie dachten, sein Sohn sei zur Polizei übergelaufen. Als Kumar von der Polizei in sein Dorf zurückkam, ohne etwas über die Maoisten verraten zu haben, blieb ihm aus seiner Sicht nichts anderes übrig, als sich den SPOs anzuschließen. „Sie hatten meinen Vater mit Stöcken vor allen anderen im Dorf totgeschlagen“, sagt Kumar.

Wie mächtig die Guerilla wirklich ist, zeigt sie nach außen nicht. Sie baut Drohkulissen auf, um den Gegner einzuschüchtern. Auch das Massaker vom 6. April diente diesem Zweck. „Wir befinden uns in der Höhle des Löwen“, sagt heute der neue Lagerkommandant in Chintalnar.

1920: Gründung der KP Indiens im Exil in Taschkent als Teil der Unabhängigkeitsbewegung

1964: Spaltung der Kommunistischen Partei Indien (KPI); der moderate Flügel nennt sich KPI (Marxistisch), lehnt den bewaffneten Kampf ab und nimmt an Wahlen teil (Regierungsbeteiligung u. a. in Westbengalen von 1967 ununterbrochen bis heute)

1965–1966: Charu Majumdar verfasst mit den „historischen acht Dokumenten“ die bis heute gültige Theorie des indischen Maoismus und des Guerillakampfes

1967: Majumdar führt Bauernaufstand im Dorf Naxalbari im Distrikt Darjeeling des Bundesstaates Westbengalen an. Seither werden die Maoisten in Indien meist Naxaliten genannt. Majumdar laufen Intellektuelle aus den Städten zu. Beginn regelmäßiger Anschläge auf Landbesitzer, Lokalpolitiker und Polizisten, die bis heute andauern

1972: Verhaftung Majumdars in Kalkutta. Er stirbt am 28. Juli in Polizeihaft. KPI(ML)-Strukturen brechen zusammen.

1977: Neuaufbau der KPI(ML) in Andhra-Pradesh und Kerala

1981: Treffen der KPI(ML) mit 13 Fraktionen aus verschiedenen Landesteilen; der Versuch einer gemeinsamen Parteibildung scheitert

1981–2004: dezentraler, unkoordinierter Aufbau maoistischer Parteistrukturen in Ureinwohnergebieten, Aufbau der Maoisten-Hochburg im Dandakaranya-Dschungel, Fortsetzung der lokalen Anschläge

2004: Gründung der KPI (Maoistisch) unter Beteiligung aller bekannten Guerillagruppen

2006: Indiens Premier Manhoman Singh nennt die Maoisten „die größte Bedrohung der inneren Sicherheit“ seit der Staatsgründung 1947

November 2009: Beginn der Regierungsoffensive „Operation Green Hunt“ unter Beteiligung von 200.000 Polizisten der Zentralen Reservepolizei (CRPF)

15. Februar 2010: Maoisten töten 25 Polizisten in Westbengalen, Kishenji übernimmt Verantwortung

6. April 2010: 76 Polizisten sterben bei einem Anschlag der Maoisten in Chintalnar im Dandakaranya-Dschungel (gbl)

Die Angst ist nicht unbegründet. Allein im Jahr 2009 kosteten die Angriffe der Maoisten landesweit tausend Menschenleben, sie selbst zählten weniger Opfer. Die straff organisierte Guerilla verfügt über 14.000 gut trainierte Vollzeitkämpfer und 50.000 parteitreue bewaffnete Milizen: die derzeit stärkste Revolutionsarmee der Welt nach den Taliban. In 22 von 28 indischen Bundesstaaten sind sie aktiv, ihre Hochburg ist der Dandakaranya, wo sie eigene Schulen, Lokalregierungen, Frauenorganisationen unterhalten.

Kurz vor Chintalnar blockiert ein gefällter Baum die Straße. Etwas weiter haben die Maoisten tiefe, frische Gräben durch die Fahrbahn gezogen. Sie demonstrieren: Hier beginnt unser Reich! Ein zerbombter Panzerwagen liegt auf der Straße. Eine Warnung an alle, die ohne Einladung weiterfahren.

In Chintalnar haben sich neben dem CRPF-Lager schon vor dreißig Jahren zwei Dutzend indische Familien niedergelassen, die seither von kleinen Handelsgeschäften mit den Adivasi leben. Sie werden auch von der Guerilla toleriert. Jeden Morgen sehen die Händler zu, wie blutjunge Milizen aus dem CRPF-Lager ausrücken – jeder mit einem Maschinengewehr über der Schulter. Sie ahnen, was den Frauen der Ureinwohner passieren würde, würden sie den Jungs jetzt über den Weg laufen. Die Händler erzählen, wie sie früher im guten Verhältnis mit den Ureinwohnern Handel betrieben hätten. „Uns einte ein Gefühl der Brüderschaft. Aber seit dem 6. April können wir uns nicht mehr über den Weg trauen. Ein Wort zu viel, und man ist ein toter Mann“, sagt ein Mann, der den Reporter für eine Nacht aufnimmt.

Seine Frau weckt den Gast am nächsten Morgen aufgeregt in aller Frühe. Sie führt ihn hinter ihr Haus an den Rand des Waldes. Dort liegen vier weiße Plakate im Sand, die per Hand mit dickem rotem Filzstift beschriftet sind. Sie sind mit „revolutionären Grüßen“ vom „Divisionskomitee Dandakaranya“ der KPI (Maoistisch) gezeichnet. Auf den Plakaten erheben die Maoisten viele Thesen und Forderungen: „Die Polizisten und Milizen, die unschuldige Ureinwohner töten, sind Mörder und keine Beschützer des Volkes“, steht da. Oder: „Die wahren Patrioten des Landes sind Maoisten.“ Oder: „Beseitigt da CRPF-Kommando!“

Die Plakate sind so schön beschrieben, als hätten brave Schulkinder sie gemalt. Doch sie sind Zeugnisse eines brutalen Dschungelkrieges. Der neue Kommandant im Lager von Chintalnar, der Elitemann aus Delhi, lässt keinen Zweifel: „Wir befinden uns im Mittelpunkt des befreiten Gebiets, am Nabel der Maoisten. Aber wir werden zurückschlagen. Wir werden unsere Verfassung und die Menschenrechte verteidigen“, sagt der Polizist. Sein Feind draußen im Wald scheint nicht weniger entschlossen.